Richard H. Dana
Zwei Jahre vor dem Mast
Vorbemerkung zur ersten Ausgabe von 1840
Ich möchte diesen Bericht der Öffentlichkeit nicht übergeben, ohne ihm einige Worte über die Gründe für seine Veröffentlichung voranzustellen. Seit Pilot und Red Rover des Herrn Cooper1 wurden so viele Geschichten über den Alltag und das Leben auf See verfaßt, daß es mir kaum als gerechtfertigt erscheint, ihnen eine weitere hinzuzufügen, ohne zumindest einige Gründe darzulegen, die mich dazu veranlaßt haben.
Abgesehen von dem – wenngleich übereilt und unzusammenhängend geschriebenen, so doch unterhaltsamen – Werk mit dem Titel Mariner’s Sketches2 des Herrn Ames’ wurden sämtliche Bücher, die angeblich den Alltag auf See schildern, von Personen verfaßt, die ihre Erfahrungen als Seeoffiziere oder Passagiere gemacht haben. Unter diesen Autoren finden sich wiederum sehr wenige, die den Anspruch auf einen Tatsachenbericht erheben werden.
Nun unterscheidet sich zum einen der gesamte Alltag mit seinen täglich wiederkehrenden Aufgaben, der Disziplin, den Gewohn- und Gepflogenheiten eines Kriegsschiffs sehr von der Handelsmarine. So unterhaltsam und gut geschrieben außerdem diese Bücher sein mögen, und so genau sie das Leben auf See wiedergeben, wie es sich den Autoren dargestellt haben mag – es muß jedermann bewußt sein, daß ein Seeoffizier, der sich als gentleman ‚mit Handschuhen’, wie man es auszudrücken pflegt, nur unter seinesgleichen bewegt und kaum mit einem Matrosen spricht, es sei denn über einen Bootsmannsmaat, zwangsläufig eine andere Sicht der Dinge hat, die sich von der Wahrnehmung eines einfachen Matrosen unterscheidet.
Abgesehen von der naturgemäßen Aufmerksamkeit, die jenen Lebensumständen zuteil wird, denen man selbst nicht ausgesetzt war, bemerkt man in den letzten Jahren ein großes Interesse an einfachen Seeleuten und eine erwachende Anteilnahme an ihrem Leben. Ich glaube dennoch, daß – mit der erwähnten Ausnahme – keines der Bücher, das den Anspruch erhebt, ihren Alltag und ihre Erfahrungen darzustellen, von einem der ihren, noch in Kenntnis des wirklichen Lebens geschrieben wurde. Eine Stimme der Back hat man noch nicht vernommen.
Auf den folgenden Seiten gebe ich einen eingehenden und verbürgten Bericht über den Zeitraum von etwas mehr als zwei Jahren, in denen ich als einfacher Matrose vor dem Mast auf einem Schiff der amerikanischen Handelsmarine verbracht habe. Es handelt sich um Ausführungen eines Tagebuchs, das ich seinerzeit geführt habe, sowie der Notizen über die meisten Ereignisse, wie sie sich zugetragen haben. Dabei habe ich mich in allen Einzelheiten an die Tatsachen gehalten und war bestrebt, dem wahren Charakter der Dinge gerecht zu werden. Aus diesem Grund war ich bisweilen gezwungen, Kraftausdrücke zu gebrauchen und an einigen Stellen Ereignisse auf eine Weise darzustellen, die auf sensible Gemüter verletzend wirken könnten. Ich habe es daher überall dort vermieden, wo ich glaubte, darauf zu verzichten zu können, ohne die Wahrheit der Schilderung zu verfälschen. Es ist meine Absicht, das Leben des einfachen Matrosen auf See in seinen Licht- wie in seinen Schattenseiten darzustellen. Dies hat mich dazu veranlaßt, das vorliegende Buch zu veröffentlichen.
Ich schließe nicht aus, daß dem landläufigen Leser in manchen Teilen Vieles unverständlich erscheint. Aus eigener Erfahrung – und aus dem, was ich von anderen hörte – weiß ich, daß einfache Tatsachen, soweit sie sich auf Bräuche und Lebensgewohnheiten beziehen, die uns neu vorkommen, ebenso wie Beschreibungen des Alltags unter einem ungewohnten Blickwinkel die Einbildung einer unerfahrenen Person auf eine Weise beflügeln, daß wir kaum bemerken, daß uns das technische Wissen fehlt. Tausende haben über die Flucht der amerikanischen Fregatte durch den Englischen Kanal und die Jagd und den Schiffbruch des Bristol Trader im Red Rover gelesen. Sie verfolgen die minutiösen nautischen Manöver mit atemloser Spannung, ohne die Bezeichnung eines Taus an Bord zu kennen und tun es voll Bewunderung und Enthusiasmus, ungeachtet mangelnder eingehender fachlicher Kenntnis.
Ich habe bei der Vorbereitung dieses Berichts sorgfältig vermieden, andere Eindrücke wiederzugeben, als solche, welche auf eigene Erlebnisse zurückgehen. Ich darf den geneigten Leser daher respektvoll auf das letzte Kapitel mit Schlußfolgerungen meiner weitergehenden Überlegungen hinweisen.
Diese Ansichten und die Hinweise einiger Freunde haben mich dazu bewogen, meinen Bericht in Druck zu geben. Sollte die Veröffentlichung das Interesse der allgemeinen Leser wecken, die Aufmerksamkeit für die Wohlfahrt der Seeleute erhöhen oder Einblick in die wirklichen Verhältnisse geben und zu ihrer Anerkennung als menschliche Wesen beitragen und sie in ihrem Glauben und ihrer Moral stärken, um am Ende die Härten ihres Alltags zu mildern, wäre ihr Ziel erreicht.
R.H.D. Jr., Boston, Juli 1940.
Kapitel 1
Der Tag, an dem die Brigg Pilgrim zu ihrer Reise von Boston um Kap Hoorn zur Westküste Amerikas auslaufen sollte, war auf den 14. August festgesetzt. Da sie am frühen Nachmittag in Fahrt gehen würde, fand ich mich um zwölf Uhr mittags in voller Montur und mit meiner Seekiste mit Sachen für eine zwei- bis dreijährige Reise an Bord ein, um mich – wenn möglich durch eine völlige Änderung meiner Lebensgewohnheiten und das Vertauschen der Bücher gegen viel schwere Arbeit, einfaches Essen und frische Luft – von einem Augenleiden zu erholen, gegen das keine Medizin zu helfen schien und welches mich gezwungen hatte, meine Pläne zu ändern.
So ungewohnt der Tausch von engsitzendem Frack, Seidenkappe und Glacéhandschuhen des Harvard-Studenten gegen weite Tuchhosen, kariertes Hemd und eine Kopfbedeckung aus Segelleinen – er war trotzdem rasch vollzogen, und ich glaubte durchaus als Janmaat durchzugehen. Indes läßt sich das geübte Auge in dieser Hinsicht unmöglich täuschen: Während ich mir in meiner Erscheinung wie Neptun aus dem Meer persönlich vorkam, erkannte jeder an Bord in mir auf den ersten Blick die Landratte. Die Kleidung des Seemanns zeichnet sich durch einen besonderen Schnitt aus und wird auf eine Art getragen, wie es keinem Neuling gelingt: Die Hose sitzt straff um die Hüften und fällt lang und lose zu den Füßen herab; ein wallendes Karohemd; ein flacher, gut geteerter schwarzer Hut, der auf dem Hinterkopf getragen wird und mit einem Meter schwarzem Band versehen ist, das über dem linken Auge herabhängt; sowie ein besonders geknotetes schwarzes Seidenhalstuch nebst allerlei anderen Kleinigkeiten; das sind Erkennungszeichen, die, wenn sie fehlen, sofort den Neuling verraten.
Es war aber nicht nur meine unpassende Kleidung, sondern auch die Art meiner Haut und meiner Hände, durch die ich mich von einem normalen, wettergegerbten Seemann mit sonnenverbrannten Wangen unterschied, der auf breit auseinanderstehenden Beinen mit rollendem Gang ausschreitet, wobei er seine gebräunten, ledrigen Hände querschiffs schwingen läßt, halb geöffnet und jederzeit gefaßt, ein Tau zu packen.
‚Mit der Last meiner Unzulänglichkeiten’ verfügte ich mich zur Mannschaft, und wir verholten hinaus auf Strom, wo wir zur Nacht vor Anker gingen. Am folgenden Tag hieß man uns das Schiff seeklar machen. Wir scherten das Leesegelgut ein, gaben die Royalrahen nach oben, setzten Schamfielings und nahmen unser Pulver an Bord. Die darauffolgende Nacht ging ich meine erste Wache. Ich blieb fast den ganzen ersten Teil der Nacht wach, aus Furcht zu überhören, wenn man mich riefe. Als ich an Deck ging, hatte ich eine so große Vorstellung von der Bedeutung des in mich gesetzten Vertrauens, daß ich das Schiff regelmäßig der Länge nach von vorn nach achtern ablief, wobei ich bei jeder Wende über den Bug und die Heckreling Ausschau hielt. Ich war einigermaßen überrascht über die Ruhe, mit welcher sich der alte Seemann, den ich zu meiner Ablösung rief, unter der Schaluppe zusammenrollte, um ein Nickerchen zu halten. Das schien ihm genug Ausguck in einer klaren Nacht vor Anker in einem sicheren Hafen.
Der nächste Morgen war ein Samstag. Eine Brise aus Süd war aufgekommen. Wir nahmen deshalb einen Lotsen an Bord, lichteten den Anker und kreuzten die Bucht hinunter. Ich nahm Abschied von meinen Freunden, die gekommen waren, Lebewohl zu sagen und hatte kaum Gelegenheit, einen letzten Blick auf die Stadt und all das mir Vertraute zu werfen, denn an Bord eines Schiffs ist keine Zeit für Gefühlsduseleien. Bei der Einfahrt in den unteren Hafen traf uns der Wind der Bucht von vorn. Das zwang uns, auf der Reede vor Anker zu gehen, wo wir den ganzen Tag über und einen Teil der Nacht blieben. Meine Wache begann um elf, und meine Anweisung lautete, dem Kapitän Bescheid zu sagen, sobald der Wind von Westen käme. Um Mitternacht frischte der Wind auf. Nachdem ich den Kapitän herbeigerufen hatte, erhielt ich Befehl alle Mann zu rufen. Wie ich das fertigbrachte, weiß ich nicht; aber sicher nicht mit dem rechten, rauhen Bootsmannsruf „A-a-a-l-l-e M-a-a-a-a-n-n! Auf Anker, a-hoy!“. Innerhalb kurzer Zeit waren alle in Bewegung, die Segel fielen, die Rahen wurden angebrasst und wir machten uns daran, den Anker – unser letzter Halt in Yankee-Land – zu lichten. Zu diesen Vorbereitungen konnte ich nur wenig beitragen. Meine geringe Kenntnis das Schiff betreffend taugte nicht viel. Zu rasch folgten unverständliche Befehle, die unverzüglich ausgeführt wurden. Es herrschte ein Hin und Her und ein Durcheinander seltsamer Rufe und noch seltsamerer Tätigkeiten, daß mich vollständig verwirrte. Es gibt kein hilfloseres und bedauernswerteres Geschöpf in der Welt als einen Landmann, der sich anschickt, Seemann zu werden. Schließlich vernahm man diese merkwürdigen, langgezogenen Töne, die anzeigen, daß die Männer das Spill bedienen, und kurze Zeit später befanden wir uns in Fahrt. Man hörte das Geräusch des Wassers, wie vom Bug aufgeworfen wurde; das Schiff neigte sich unter der klammen, nächtlichen Brise und rollte mit der trägen Dünung; wir waren tatsächlich unterwegs auf unserer so langen Reise. Es hieß buchstäblich, meinem Heimatland Gute Nacht sagen.
Kapitel 2
Unser erster Tag auf See war ein Sonntag. Wir hatten gerade den Hafen verlassen, und an Bord gab es Einiges zu erledigen; deshalb wurden wir den ganzen Tag beschäftigt; abends wurden die Wachen besetzt, und alles seeklar gemacht. Als man uns nach hinten rief, um uns zu den Wachen einzuteilen, bekam ich gleich Anschauungsunterricht im Auftreten eines See-Kapitäns. Dieser hielt, nachdem die Einteilung vorgenommen worden war, eine kurze, typische Ansprache, in deren Verlauf er mit einer Zigarre im Mund über das Achterdeck schritt und zwischen jedem Zug die Worte ausstieß:
„Also, meine Männer, wir befinden uns jetzt zusammen auf einer langen Reise. Kommen wir gut miteinander aus, werden wir eine gemütliche Zeit miteinander verbringen; falls nicht, wird es die Hölle auf Erde. – Alles was Ihr zu tun habt, ist, meinen Befehlen gehorchen und eurer Pflicht als Männer nachkommen, – dann werdet Ihr es gut haben; – falls nicht, wird es Euch schlecht ergehen, – soviel kann ich Euch versprechen. Wenn wir an einem Strang ziehen, werdet Ihr mich als klugen Kerl erleben; falls nicht, erlebt ihr mich als schlimmen Schuft. – Das ist alles, was ich euch zu sagen habe. – Backbordwache, wegtreten!“
Ich war in der Steuerbordwache des Zweiten Steuermanns und bekam gleich Gelegenheit für meine erste Seewache. In derselben Wache war Stimson, ein junger Mann, der wie ich seine erste Reise machte. Der Sohn eines Geschäftsmannes hatte in der Buchhaltung eines Kaufmanns in Boston gearbeitet. Folglich stellten wir fest, daß wir miteinander zahlreiche Bekannte und Neigungen teilten. Darüber unterhielten wir uns – über Boston; was unsere Freunde täten; über unsere Reise, usw.; bis er den Platz des Ausgucks übernahm und ich mir selbst genug sein mußte. Jetzt hatte ich eine gute Gelegenheit zum Nachdenken. Ich spürte zum ersten Mal die absolute Stille des Meeres. Der Offizier machte seine Runden auf dem Achterdeck, zu dem ich keinen Zutritt hatte; auf der Back unterhielten sich zwei, zu denen mich hinzu zu gesellen ich keine Neigung verspürte. So überließ ich mich vollkommen dem Eindruck der Dinge um mich herum. Wie sehr ich auch von der Schönheit der See eingenommen war, von den hellen Sternen und den Wolken, die rasch darüber hinwegzogen – es vermochte mich nicht von den Gedanken abzulenken, daß ich alle gesellschaftlichen und geistigen Freuden des Lebens zurückgelassen hatte. So seltsam es aber scheinen mag – ich genoß damals und auch späterhin diesen Gedanken, weil ich hoffte, daß er mich davor bewahrt, gleichgültig gegenüber dem zu werden, was ich dabei war zu verlieren.
Indes wurde ich schon bald vom Befehl des Offiziers die Rahen zu brassen aus meinen Träumen geschreckt, denn der Wind schralte weg. Ich erkannte deutlich am gelegentlichen Blick der Matrosen nach Lee und den rasch herannahenden dunklen Wolken, daß wir uns auf schlechtes Wetter vorbereiten mußten, und ich hörte den Kapitän sagen, er erwarte gegen zwölf Uhr im Golfstrom zu sein. Wenige Minuten später schlug es acht Glasen, die Wache kam an Deck, und wir traten ab. Mittlerweile begann ich die ersten Unannehmlichkeiten des Matrosenlebens zu spüren. Das Zwischendeck, in dem ich logierte, stand voll mit Rollen Tauwerk, Ersatzsegeln, altem Plunder und Schiffsmaterialien, die noch nicht verstaut waren. Überdies hatte man für uns keine Kojen aufgestellt, um darin zu schlafen. Es war uns auch nicht gestattet, Nägel einzuschlagen, um unsere Kleidung aufzuhängen. Die See ging jetzt höher, das Schiff rollte stark, und alles wurde in einem großen Durcheinander hin- und hergeworfen. Es herrschte ein totales Tohuwabohu; wie die Seeleute sagen: „Alles obenauf und nichts bei der Hand“. Auf meiner Kiste lag eine große Trosse aufgeschossen; meine Hüte, Stiefel, Matratze und Decken hatten sich selbständig gemacht und waren nach Lee übergegangen, unter Kisten und Taurollen eingeklemmt und unbrauchbar. Als wäre dies nicht genug, war es uns untersagt, Licht anzuzünden, um irgendetwas zu finden. Dabei bemerkte ich an mir soeben, begleitet von Lustlosigkeit und Trägheit, deutliche Anzeichen der Seekrankheit. Anstatt weiter meine Sachen zusammenzusuchen, legte ich mich auf die Segel nieder. Jeden Augenblick erwartete ich den Ruf „Alle Mann auf!“, der mit dem nahenden Sturm zwangsläufig kommen mußte. Alsbald hörte ich, wie die Regentropfen schwer und in rascher Folge aufs Deck fielen. Die Wache hatte ganz offensichtlich alle Hände voll zu tun. Ich konnte es an den lauten, wiederholten Befehlen des Steuermanns, am Trampeln der Füße, dem Quietschen der Blöcke und all den Begleitgeräuschen eines nahenden Sturms hören. Nach wenigen Minuten wurde die Niedergangsluke zurückgestoßen, wodurch der Lärm und Tumult an Deck noch lauter herabschallte. Der Ruf „Alle Mann auf! Segel festmachen!“ grüßte unsere Ohren, woraufhin sich die Luke schnell wieder schloß. Als ich an Deck erschien, erwarteten mich eine neue Aussicht und eine neue Erfahrung.
Die kleine Brigg lag hart am Wind und, wie mir schien, fast zum Kentern. Die schwere See schlug laut und mit der Gewalt eines Schmiedehammers gegen ihren Bug und durchnäßte uns, indem sie über das ganze Deck kam, bis auf die Haut. Die Marsfallen waren los, so daß sich die großen Segel blähten und donnernd back gegen die Masten schlugen. Der Wind pfiff durch die Takelage, lose Taue flogen umher; währenddessen wurden andauernd laute, mir unverständliche Befehle gegeben und sofort, begleitet von den rauhen, seltsam gedehnten Lauten, in denen die Matrosen an den Trossen ‚aussangen’, ausgeführt.
Hinzukam, daß ich noch keine ‚Seebeine’ hatte, furchtbar krank war und kaum die Kraft besaß, irgendetwas festzuhalten. Gleichzeitig war es stockdunkel. In diesem Zustand wurde ich zum ersten Mal in den Mast geschickt, die Marssegel zu reffen.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich das schaffte. Ich ging auf die Rahen und hielt mich mit aller Kraft fest. Viel nutzen konnte ich nicht, denn ich erinnere mich, daß ich mich mehrfach übergeben mußte, bevor ich die Marsrah nach leeward wild in die dunkle Nacht speiend verließ. Bald war oben alles geborgen, so daß wir wieder abtreten konnten. Ich betrachtete das als keine besondere Gunst, denn das Durcheinander unter Deck und der unaussprechlich widerliche Gestank, der vom aufgeworfenen Bilgenwasser im Laderaum kam, machte aus dem Zwischendeck nicht mehr als eine Zuflucht vor dem kalten, nassen Deck. Ich hatte häufig über die Erfahrungen anderer auf See gelesen, aber so wie ich mich fühlte, konnte es keine schlimmere geben, als die meine. Denn zu allem anderen Übel mußte ich daran denken, daß dies erst die erste Nacht einer zweijährigen Reise war. Auf Deck waren wir nicht viel besser dran: Ständig wurden wir vom Offizier herumkommandiert, der meinte, es wäre gut für uns, in Bewegung zu bleiben. Trotzdem war alles besser als der furchtbare Zustand, der unter Deck herrschte. Ich erinnere mich sehr genau, wie ich, wenn mir schlecht wurde, zur Luke ging und den Kopf hinunter steckte, woraufhin sofort Erleichterung eintrat. Es war ein wirksames Brechmittel.
Dieser Zustand hielt zwei Tage an.
Mittwoch, 20. August. Wir hatten die Deckswache von vier bis acht an diesem Morgen. Als wir um Vier an Deck kamen, fanden wir die Dinge sehr zum Besseren verändert. See und Wind hatten sich gelegt, die Sterne leuchteten hell. Ich bemerkte auch an mir, obwohl noch stets von meiner Krankheit geschwächt, eine Veränderung meiner Befindlichkeit. Ich stand auf der Luvseite, von wo ich den langsamen Tagesanbruch und die ersten Strahlen des Morgenlichts betrachtete. Vieles ist über den Sonnenaufgang auf See gesagt worden – er ist aber nichts im Vergleich des Sonnenaufgangs auf dem festen Land. Ihm fehlen die Begleitgesänge der Vögel, das erwachende Brummen der Menschen und die ersten Strahlen, die über Bäume, Hügel, Türme und Dächern streifen, die ihn mit Leben erfüllen und beseelen. Es gibt keine Landschaft. Doch obwohl der eigentliche Sonnenaufgang auf dem Meer nicht so schön ist, gibt es nichts, was der Melancholie und Ödnis des frühen Tagesanbruchs über Old Ocean’s gray and melancholy waste4 gleichkäme.
Es liegt etwas in den ersten grauen Streifen, die sich entlang des östlichen Horizonts ausdehnen und ein unbestimmtes Licht auf die Oberfläche der Tiefen werfen, welches mit der Grenzenlosigkeit und dem unbekannten Abgrund des Meeres zusammenspielt und ihn mit einem Gefühl der Einsamkeit, der Furcht und schwermütigen Ahnungen erfüllt, das man nirgendwo sonst in der Natur findet. Dieses Gefühl weicht mit heller werdendem Licht, und wenn die Sonne aufsteigt, beginnt der eintönige Tag auf See.
„Vorwärts ihr! Gallionspumpe klarmachen!“ Der Befehl des Offiziers riß mich aus meinen Gedanken. Ich stellte fest, daß für Tagträume keine Zeit war; daß wir vielmehr beim ersten Lichtschein an die Arbeit mußten. Nachdem die Tageswächter, namentlich Zimmermann, Koch, Aufwärter, usw. heraufgerufen worden waren und die Bugpumpe klarstand, begannen wir mit Deckwaschen. Diese Tätigkeit, die auf See jeden Morgen ausgeführt wird, nimmt rund zwei Stunden in Anspruch, wobei ich kaum die Kraft hatte, das durchzustehen. Nachdem wir damit fertig waren, geschwabbert und das Tauwerk aufgeschossen hatten, ließ ich mich auf dem Rundholz nieder und wartete auf sieben Glasen, dem Zeichen zum Frühstück. Als der Offizier sah, daß ich nichts zu tun hatte, befahl er mir, den Großmast vom Topp der Bramstenge abwärts zu schmieren. Das Schiff rollte ein wenig, und ich hatte seit drei Tagen nichts gegessen, weshalb ich versucht war einzuwenden, daß ich lieber bis nach dem Frühstück wartete. Mir war aber bewußt, daß ich den Stier bei den Hörnern packen mußte und daß ich, sollte ich nicht genug Einsatz zeigen oder mich als tatenlos erweisen, sogleich verspielt hätte. Ich nahm daher meinen Fetteimer und stieg zum Bramstengetopp hinauf. Das Schaukeln des Schiffs, das um so stärker zunimmt je weiter man sich vom Mastfuß, der Drehachse des Hebels, entfernt, zusammen mit dem Geruch des Fettes, der meine empfindlichen Sinne störte, drehten mir erneut den Magen um, so daß ich nach Beendigung meiner Arbeit mehr als erfreut auf den vergleichsweise festen Boden des Decks zurückkehrte. Wenige Minuten später läutete es sieben Glasen; das Log wurde geworfen, die Wache gerufen, dann gingen wir zum Frühstück. An dieser Stelle erinnere ich mich unwillkürlich an den Rat des Kochs, einem offenen und ehrlichen Afrikaner. „Mein Freund“, sagte er, „jetzt hast Du dich ordentlich ausgekotzt und keinen Tropfen Brackwasser mehr in Dir. Jetzt ist’s an der Zeit, das Ruder überzulegen. Über Bord mit Deinem Zuckerbrot, und faß’ ein herzhaftes Stück Salzfleisch und Schiffszwieback, und ich verspreche Dir, daß Du ordentlich was auf die Rippen bekommst, und ehe Du am Hoorn bist, kannst Du’s mit den andern aufnehmen.“ Das wäre ein guter Rat an Passagiere, die auf ihre kleinen Mittelchen schwören, die sie gegen Seekrankheit eingepackt haben.
Ich vermag die Verwandlung nicht zu beschreiben, die ein halbes Pfund kaltes Pökelfleisch und ein oder zwei Zwiebacks in mir bewirkten. Ich fühlte mich wie neugeboren. Wir hatten Freiwache bis Mittag, so daß ich Zeit für mich selbst hatte; und nachdem der Koch mir ein gewaltiges Stück kräftiges, kaltes gepökeltes Rindfleisch gegeben hatte, kaute ich bis um zwölf darauf herum. Als wir an Deck gingen, fühlte ich mich fast wie ein Mensch, in der Stimmung, meinen Seemannspflichten nachzukommen. Gegen Zwei hörten wir von oben den Ruf „Segel voraus!“. Kurze Zeit später sahen wir zwei Schiffe querab an Luv, die geradewegs auf vor unserem Kopf vorbeifuhren. Das war das erste Mal, daß ich ein Segelschiff auf See sah. Ich fand damals – und danach stets aufs Neue –, daß es mit ihm kein anderer Anblick an Größe und wenige an Schönheit aufnehmen können. Sie passierten uns an Lee außer Rufweite. Der Kapitän konnte aber mit dem Fernglas ihre Namen auf den Steven lesen: Es waren das Vollschiff Helen Mar aus New York und die Brigg Mermaid aus Boston. Beide fuhren in westliche Richtung, unserem ‚teuren Heimatland’ entgegen.
Donnerstag, 21. August. An diesem Tag ging die Sonne klar auf. Wir hatten günstigen Wind und alles strahlte und war heiter. Ich stand inzwischen auf meinen Seebeinen und begann, mich in die regelmäßigen Aufgaben des Bordlebens einzufügen. Um sechs Glasen, das heißt, gegen drei Uhr nachmittags, machten wir über unserem Backbordbug ein Schiff aus. Wie jeder neue Matrose war ich begierig darauf, es zu sprechen. Es kam zu uns herüber und setzte sein Großmarssegel back, so daß die beiden Schiffe einander gegenüber zu liegen kamen. Sie bäumten sich voreinander auf und verneigten sich wie zwei von ihren Reitern gezügelte Schlachtrosse.
Zum ersten Mal sah ich ein Schiff aus der Nähe. Ich war überrascht, wie stark es in der ruhigen See rollte und stampfte. Nachdem sein Kopf ins Meer eingetaucht war, senkte sich das Heck langsam, so daß der Bug hoch aufragte und der glänzende Kupferbeschlag sichtbar wurde. Dabei troff das Salzwasser von Steven und Bugbändern wie aus Neptun’s Locken. Auf den Decks drängten sich die Passagiere, die beim Ruf „Segel voraus!“ heraufgekommen waren und, nach ihrer Kleidung und ihrer Gestalt zu urteilen, Schweizer und französische Auswanderer waren. Sie grüßten uns zuerst auf Französisch, versuchten es dann, als sie keine Antwort erhielten, in Englisch. Das Schiff war die La Carolina von Havre nach New York. Wir baten sie, die Brig Pilgrim aus Boston, nach der Nordwestküste von Amerika, fünf Tage auf See, zu melden, bevor sie aufbrassten und wir uns weiter durch die Wüstenei aus Wasser pflügten.
Es gibt eine feste Routine, Schiffe auf See anzurufen: „Schiff ahoi!“ – Antwort „Hallo!“ – „Welches Schiff, sprecht?“ – „Schiff Carolina, aus Havre, nach New York! Woher seid Ihr?“ – „Brigg Pilgrim, aus Boston, nach der Küste von Kalifornien, fünf Tage auf See.“ Hiervon wird nicht abgewichen; es sei denn, man hat keine Eile.
Der Tag endete freundlich; wir befanden uns nunmehr in beständigem und angenehmem Wetter, und die Alltagsroutine an Bord, die lediglich durch einen Sturm, ein Schiff oder Land in Sicht unterbrochen wird, hatte sich eingespielt.
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