Inhalt
Das Jahr 1945
Erstes Kapitel
Ein Amerikaner besucht Dr. Wild
Eine Frau wartet im Gefängnis
Ein Mädchen geht auf die Straße
Immer ein Kaninchen zur Hand
War die Kommandeuse zu Hause?
Oberst Sibelius muß ins Lager
“Stehlen Sie aus Vaterlandsliebe?”
Die Berge haben Geheimnisses
Colonel Hunter lernt deutsch
Kriegsgefangener Eber kehrt heim
Zweites Kapitel
Frank und George begegnen ihrer Jugend
Vier Frauen erwarten ihr Schicksal
Frank findet Elisabeth
Ein Neger nimmt Inge mit
Adam Wild greift ein
George beschlagnahmt eine Wohnung
Dr. Wilds Haus bleibt Zuflucht
Major O'Hara rettet die Kommandeuse
Nachtlokal 'Mücke' bekommt Lizenz
SS-Führer Mante wittert Morgenluft
Drittes Kapitel
Der erste Winter war die Hölle
Die Stacheldrähte bleiben
Adam Wild schlägt zu
Die Huren spielen Rommé
Abwehrchef Ost wird wieder gebraucht
Frank übernimmt den Fall O'Hara
Hans Eber sagt die Wahrheit
"Ist Gehorsam eine Schuld?"
In Nürnberg beginnt das tödliche Spiel
O'Hara prügelt nicht mehr
Weihnachten 1945
Die Jahre 1946 bis 1948
Viertes Kapitel
Inge Schmidt kann nicht weiter
George gewinnt eine Runde
Mrs. Hunter wird eifersüchtig
Die Kommandeuse flieht nach Berlin
Elisabeth findet ein Asyl
Der Gouverneur gibt eine Party
Frank Green schlägt zurück
Die Nacht war ohne Gespenster
Oberst Sibelius wird Kellner
Es wird Frühling in Deutschland
Fünftes Kapitel
Ein Affenkäfig wird gesäubert
In Berlin geschieht ein Mord
Der Föhn verwirrt Colonel Hunter
Adam kommt vor Gericht
"Das haben uns die Amis eingebrockt!"
Wohin der Strom fließt
Jetzt wird entnazifiziert
Frank gewinnt die zweite Runde
Morgen werden sie Witwen sein
Als das Jahr 1946 zu Ende ging
Sechstes Kapitel
Der schwarze Markt regiert
"Ich war immer ein guter Vater"
Mehr verzeihen und weniger vergessen
Sibelius geht einen schweren Gang
Man muß einen guten Magen haben
Der Colonel hat drei Unterredungen
Bankhaus Eber zieht die Fahne hoch
Schwarzer Vogel zwischen den Ruinen
Die Gespenster sind stärker
Herrlichen Zeiten entgegen
Die Jahre nachher
Siebentes Kapitel
Colonel Hunter verzichtet
Wedemeyer zaubert wieder
Sibelius schreibt an Adam Wild
"Im Luftschutzkeller waren alle gleich"
Am Friedhofstor steht das Abenteuer
Mante löst die Verlobung
"... und uns fehlt nur eine Kleinigkeit"
Der Funke, der nie verlischt
Das Jahr 1945
Erstes Kapitel
Ein Amerikaner besucht Dr. Wild
Die letzte Patientin war gegangen. Dr. Adam Wild hing den nicht mehr ganz weißen Ärztekittel an einen Haken auf der Tür. Die Wand des kleinen Ordinationszimmers schälte sich wie ein räudiger Hund.
Er trat ans offene Fenster und blickte hinaus.
Es war Mai und Föhnstimmung. Der Föhn kam in warmen Wellen:. Juliwetter mit winterlichen Unterströmungen. In solchem Wetter werden die Kühe auf den Almen wild oder lüstern oder beides.
Der Föhn malte wie ein malendes Kind, primitiv, mit viel zu scharfen Konturen. Viel zu scharf waren die Konturen der Ruinen vor dem Fenster des Dr. Adam Wild. Es war nicht als blickte der Himmel durch die leeren Fenster, sondern als hätten die Fenster ein Stück Blau aus dem Himmel geschnitten.
Auf der anderen Seite der engen Münchner Vorstadtstraße stand kein Haus mehr. Das war fast überall so: die eine Straßenseite unversehrt, die andere wegrasiert. Der Tod zog seine Furchen gerade wie ein guter Bauer.
Dr. Wild wandte sich ab. Er durchquerte das dumpfe Wartezimmer, das nach Krankenkasse roch, und betrat den Wohnraum. Es war ein ziemlich großes Zimmer, aber es war so vollgeräumt, daß es klein wirkte. Stühle, Truhen, Vasen, Glasschränke, Statuen, selbst die Bilder so nahe beieinander, daß sie sich beinahe berührten. Frau Wilds Antiquitätenladen war ausgebombt. Das Wohnzimmer war jetzt ihr Antiquitätenladen.
Frau Wild saß in einem antiken Lehnsessel mit einem hohen, starren Rücken aus Samt, auf den ein Wappen gestickt war. In dem majestätischen Sessel wirkte sie wie eine winzige, alte Königin. Neben ihrem Sohn sah sie immer kleiner aus als sie war, denn er war ein Riese: breit, massiv und schwerfällig, ähnelte er dem normannischen Schrank, neben dem er jetzt stand.
Frau Wild blickte auf aus ihrem schwarzen, antiquarischen Buch, das sie gelesen hatte. Es war seltsam, wie sich der Riese und die kleine Frau ähnelten. Beide hatten hellblaue Augen, nur waren ihre viel jünger, Inseln in einem Runzelmeer. Auch mußte sie einst genau so blond gewesen sein wie er, denn ihre Haare waren nicht weiß, sondern gelb.
»Eine Sommerhitze«, sagte Frau Wild. Sie ging zum Fenster und öffnete es. Dabei fiel ihr Blick auf die Straße.
»Ein Amerikaner«, sagte sie.
Dr. Wild blickte über ihren Kopf hinweg auf die Straße.
Unten hielt ein Jeep. Neben dem Fahrer saß ein Offizier. Er trug ein grünbraunes Feldhemd und eine Feldmütze. Hinten im Jeep waren drei oder vier Pappschachteln aufgestapelt. Mutter und Sohn wußten, was sie enthielten, denn in ihren Träumen kehrten diese Pappschachteln immer wieder. Die amerikanische Armee nannte sie Rationen. Für die Deutschen waren sie Träume aus Pappe.
Der Offizier blickte zum Fenster hinauf. Dann sagte er etwas zu seinem Fahrer und stieg aus.
»Ein Käufer?« fragte Frau Wild.
»Vielleicht«, sagte der Doktor.
Sie ging zur Wohnungstür, der Sicherheit halber, denn die elektrische Glocke funktionierte nicht.
Die Hand des Offiziers blieb in der Luft hängen: er wollte gerade anklopfen, als Frau Wild öffnete.
Er war ein Mann von etwa dreißig, mittelgroß, schlank, mit braunen Haaren, eher hell als dunkel. Er hatte ein übersichtliches Gesicht, auf dem man sich schnell auskannte wie in einer modernen Stadt: nicht schön, aber sauber, gerade und praktisch.
»Ist Herr Dr. Wild zu Hause?« fragte der Offizier, indem er seine Feldmütze in die Hand nahm. Er sprach deutsch wie ein Deutscher.
»Bitte treten Sie ein«, sagte Frau Wild.
Er musterte die alte Frau etwas verwundert, denn er war es gewohnt, daß ihm Angst begegnete oder Liebedienerei. Sie schien weder ängstlich noch servil.
Sie führte ihn ins Wohnzimmer und ließ ihn mit ihrem Sohn allein, denn er war offenbar keiner der Käufer, die Antiquitäten für Pappschachteln einhandelten.
»Mein Name ist Frank Green«, sagte der Offizier. Er sprach schnell, als wollte er hinwegkommen über die Formalitäten. »Das sagt Ihnen sicher nichts, Herr Doktor. Ich habe früher Grün geheißen. Franz Grün.«
»Nehmen Sie Platz«, sagte Adam Wild. Aber auch der Name Franz Grün bedeutete ihm nichts.
Der Major sah sich um. Er fand nicht sofort einen Platz, auf dem er es sich bequem machen konnte. Adam war es, als suchte er Zeit zu gewinnen. Schließlich setzte er sich auf eine alte Tiroler Truhe.
»Ich bin gekommen«, begann der Offizier, »um Ihnen zu danken, Herr Doktor. Sie haben meine Mutter bis zum letzten Tag betreut.«
Jetzt erinnerte sich Adam.
»Frau Oberlandesgerichtsrat Grün«, sagte er.
Der Offizier nickte.
»Ich weiß, was Sie für meine Mutter getan haben.« Er sprach, als hätte er seine Rede vorbereitet. »Ich weiß, wie schwierig es war.«
»Es war vor dem Krieg, soweit ich mich erinnere. Damals war es noch nicht so schwer.«
Das Gespräch begann ihm peinlich zu werden. Jetzt erinnerte er sich genau an die alte Dame. Sie war zu ihm gekommen, noch einmal, am letzten Tag, bevor man sie ins Konzentrationslager brachte. »Helfen Sie mir, Herr Doktor!« hatte sie gesagt — als ob es eine Medizin gegeben hätte gegen KZ! Und das war also ihr Sohn, ein amerikanischer Offizier, mit Pappschachteln im Jeep. Er sagte schnell:
»Haben Sie Ihr Haus wiedergefunden, Herr Green?« Er kannte die amerikanischen Offiziersgrade noch nicht.
»Den Platz, wo es stand«, sagte der Major. »Es ist ausgebombt.«
Adam dachte: Komisch, das ausgebombte Haus eines Amerikaners!
Der Major nahm ein frisches, gefaltetes Taschentuch heraus und trocknete sich die nasse Stirne. Er wollte etwas sagen, aber der Arzt schnitt ihm das unausgesprochene Wort ab.
»Föhn«, sagte Adam und versuchte zu lächeln.
»Ja, der alte Münchner Föhn«, lächelte der Offizier.
Er griff in seine Brusttasche, entnahm ihr ein Päckchen Zigaretten und streckte es dem Arzt entgegen. Adam gab ihm Feuer und zündete sich selbst eine Zigarette an.
Der Major behielt das Päckchen in der Hand. Er war es nicht mehr gewöhnt, Zigaretten wieder einzustecken. Es wunderte ihn auch, daß der Arzt die Zigarette gleich angezündet hatte, statt sie ›für später‹ aufzuheben. ›Für später aufheben‹: das war die Aufforderung der Deutschen, man möge ihnen das ganze Päckchen geben, oder was es noch enthielt. Dieser Riese mit dem dichten Schnauzbart tanzte aus der Reihe. Der Major bedauerte, daß er gekommen war.
»Nun«, sagte er endlich, »ich wollte mich nur bedanken, Herr Doktor. Und Ihnen meine Adresse geben. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann ...«
Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb darauf:
»Frank Green, Major, M.I., Hauptquartier, 45. Division, Ludwigstraße.«
Er wollte dem Arzt das Papier reichen, aber als Adam seine Hand nicht danach ausstreckte, legte er es neben sich auf die Truhe.
In der Tür blieb er noch einmal stehen, als hätte er etwas vergessen.
Sobald er gegangen war, steckte Frau Wild ihren Kopf durch die Tür.
»Was wollte er?« fragte sie.
»Er wollte uns ein paar Rationen schenken«, sagte Adam.
Eine Frau wartet im Gefängnis
Der Korridor B des Gefängnisses zu Nürnberg war wie alle Gefängniskorridore: ein endloser Tunnel mit Seitentüren.
Elisabeth von Zutraven saß auf einer Bank und wartete. Jetzt war es vier Uhr: sie wartete seit eins. Aber sie war das Warten gewöhnt, denn es war 1945, und sie war eine Deutsche.
Elisabeth von Zutraven trug ein schwarzes Tuch über dunkelblonden Haaren. Blaue oder graue Augen hätten besser zu ihren Haaren gepaßt, aber sie waren braun wie alte Baumrinden. Vielleicht waren es diese Augen, die es so schwer machten, zu sagen, wie alt sie war — fünfundzwanzig oder dreißig oder mehr. Es waren Augen, die nicht nur sahen, sondern auch erzählten, was sie gesehen hatten.
Der M.P., der gegenüber an der Wand lehnte, starrte sie an, und Elisabeth erfaßte sogleich, daß er mit ihr nichts anzufangen wußte. Er hatte einen schneeweißen Helm auf und sah aus wie ein bewaffneter Koch. Auch daran hatte sich Elisabeth gewöhnt, angestarrt zu werden. Seine Augen störten sie nicht, weniger als die Augen ihrer Landsleute. Fremden Augen konnte man leichter standhalten; fremde Augen gingen einen nichts an.
Auf einmal lächelte der M.P. Er fragte:
»Chewing gum ... ?«
Sie versuchte zu lächeln und schüttelte den Kopf.
Dann lehnte sich der M.P. nicht mehr an die Wand. Wie ertappt, riß er sich zusammen und stand stramm. Eine Tür war aufgegangen. Ein junger Captain trat heraus, und sagte:
»You can come along, Frau Zutraven.«
Er ging ihr schnell voraus. Vor einer Eisentür standen zwei Militärpolizisten. Der Captain zeigte ihnen den Besuchsschein, sie salutierten und öffneten die Tür.
Der Raum, den sie betraten, erinnerte Elisabeth an die Winterhäuser der Zoologischen Gärten. Es gab drei voneinander mit dicken Wänden abgesonderte Käfige. Es waren Käfige, nicht Zellen, vom Besucher nur mit Stäben abgetrennt, mit Türen im Hintergrund. Man konnte sich vorstellen, daß es hinter den Türen Felsen und Wassergräben gab, für rollende und bettelnde Eisbären. Nur stank es hier nicht nach Tier wie in den Winterhäusern. Es stank nach Mensch.
Vor jedem der leeren Käfige stand ein Stuhl. Auf einem saß ein amerikanischer Soldat mit einem Schreibblock in der Hand.
Dann ging die Tür auf, die von außen in den mittleren Käfig führte. Es war eine regelrechte Tür, durch die ein Mann aufrecht hereintreten konnte, und das fiel Elisabeth auf, denn sie hatte unbewußt erwartet, daß der Gefangene auf allen Vieren hereinkriechen würde wie die Bären oder die Wölfe.
Auch einen Stuhl gab es im Käfig. Kurt von Zutraven blieb vor dem Stuhl stehen.
Sie hatte ihn seit seiner Verhaftung nicht gesehen. Wann das war, wußte sie nicht mehr. Berlin war noch nicht gefallen; der Führer lebte noch. Und es gab noch Menschen, die an ein Wunder glaubten.
Es muß sehr lange her sein, dachte Elisabeth. Denn Kurt von Zutravens blonde Haare waren grau geworden. Nicht weiß, sondern so, als hätte man einen Eimer voll Asche über sie ausgeschüttet. Auch seine blauen Augen waren grau geworden. Er hatte einen Goldzahn, rechts, im Oberkiefer. Er wirkte jetzt grotesk, der Goldzahn, wie ein Ring in einem Aschenbecher.
»Wie geht es dir, Elisabeth?« fragte der Mann hinter dem Gitter.
»Danke«, sagte die Frau, »wie geht es dir?«
Sie fand es lächerlich, daß der Soldat jedes Wort mitschrieb.
»Wann bist du herausgekommen?« fragte er.
»Schon nach elf Tagen.«
»Kannst du mit Dr. Leberecht sprechen?« fragte er nach einem kurzen Zögern. »Vielleicht würde er meine Verteidigung übernehmen.«
»Ich will es versuchen«, antwortete sie.
»Hast du Geld?« fragte er.
»Ich brauche kein Geld«, sagte sie. »ich lebe noch in der Vernehmungsvilla.«
Sie wollte ihm etwas Trostreiches sagen, aber es fiel ihr nichts ein.
»Brauchst du etwas?« fragte sie endlich.
Er versuchte zu lächeln. »Ich habe alles. Nur ein Bild möchte ich von dir haben. Und von Mama.« Er blickte durch das Gitter nach dem Captain. »Es ist erlaubt.«
»Ich werde sie hereinschicken«, sagte die Frau.
Sie wollte sagen, daß auch sie sein Bild aufgestellt hatte. Aber es hätte abgeschmackt geklungen. Und es war nicht wahr.
Endlich fiel ihr etwas ein. »Ich habe Bücher mitgebracht«, sagte sie. »Sie werden überprüft.«
»Danke«, sagte er.
Zwei Minuten später räusperte sich der Captain. Sie verabschiedeten sich.
Der Captain führte sie zu seinem Büro zurück. Er gab dem M.P. einen Wink.
Der M.P. ging wortlos neben ihr her, bis zum Ausgang des Gerichtsgebäudes. Als sie auf die Straße hinaustrat, sagte er:
»Chewing gum ...«
Und ehe sie etwas sagen konnte, drückte er ihr ein Päckchen Kaugummi in die Hand.
Ein Mädchen geht auf die Straße Das Haus München, Sankt-Martin-Straße 56b, lag günstig. Als besonders günstig hatte es der Rentner Alois Schmidt früher empfunden, daß sich seine beiden Zimmer im dritten Stock befanden. Der Ostfriedhof hat hohe Mauern, und man muß ziemlich hoch wohnen, um über sie hinweg in den Friedhof zu sehen. Wenn es nicht zu kalt war, pflegte das Fenster immer offenzustehen. In Hemdsärmeln lehnte dann Schmidt hinaus, und seine Pfeife pflegte er zu paffen, damals, als es noch Tabak gab. Er betrachtete den Friedhof. Er hätte den Friedhof nicht für den schönsten Park eingetauscht. In einem Park gibt es nur Sträucher und Bäume, bestenfalls ein paar Blumen. In einem Friedhof gibt es außerdem Kränze, deren Farbenpracht nicht abhängig ist von der Jahreszeit. Kränze mit violetten Schärpen und goldenen Buchstaben. In einem Friedhof gibt es Begräbnisse, reiche und arme, mit oder ohne Reden, traurige und sachliche. Es hing vielleicht mit den Gräbern zusammen, daß der Rentner Alois Schmidt im Dritten Reich Blockwart wurde. Die NSDAP, der er schon früh angehörte, wußte einen Mann zu schätzen, der Beobachtungsgabe besaß. Neben den Toten, die eingingen ins ewige Leben, beobachtete er die Lebenden, die in den Häusern aus- und eingingen. Nun war er zu den Toten zurückgekehrt, allerdings unter ungünstigen Verhältnissen. Man hatte ihm seine Rente gestrichen. Und er konnte keine Pfeife rauchen, denn Tabak war noch rarer als Geld. Und auch die schönen Begräbnisse waren eine Rarität geworden. Eine Frage von Angebot und Nachfrage offenbar: je alltäglicher der Tod, desto wohlfeiler die Begräbnisse. An diesem späten Junitag des Jahres 1945 hingen die Wolken schwer über dem Friedhof. Nun entlud sich endlich das erste Sommergewitter. Mit einem Seufzer schloß Alois Schmidt das Fenster. Er hatte nicht bemerkt, daß Inge in einem Korbstuhl hinter ihm saß. Sie tat, was sie immer tat – nichts. Sie war sechzehn. Man hätte sie für vierzehn halten können, so gertenhaft war sie, so lebertranbedürftig. Aber, wenn man ihre Augen sah, wußte man, daß sie nicht vierzehn war. Und man wunderte sich, daß sie nicht mehr war als sechzehn. »Hast du etwas mitgebracht?« fragte ihr Vater. »Kartoffeln«, sagte sie. »Sonst nichts?« »Nein.« »Keinen Tabak?« »Nein.« Sie schlug die Beine übereinander, das linke Knie über das rechte. Ihre Knie waren beinahe rührend: eigentlich hätten sie von Schorf bedeckt sein sollen wie die kleiner Mädchen, die immer hinfallen. Ihr Vater setzte sich ihr gegenüber aufs Kanapee. Es war ein dunkelrotes Plüschkanapee, an beiden Enden mit harten, zylinderförmigen Kissen. Und zwei Löwenköpfen aus Messing, mit Ringen im Maul. Nur war der eine Löwe zahnlos: er hatte den Ring verloren. »Die Donaubauers haben immer zu rauchen«, sagte der Vater. »Und gestern hatten sie Bier.« »Der Donaubauer war nicht Blockwart«, sagte das Mädchen. »Damit hat das nichts zu tun«, sagte der Vater. »Es war amerikanisches Bier. Mit der Rente hat er es nicht bezahlt.« Er starrte auf die Knie seiner Tochter. Inge schlug die Beine wieder übereinander: nur diesmal das rechte über das linke. Sie sagte: »Die Hilde geht mit einem Amerikaner.« »Stimmt nicht«, sagte der Rentner. »Es ist verboten.« »Verboten oder nicht«, sagte Inge. Alois Schmidt liebte keinen Widerspruch. Er sagte: »Sie geht mit dem Huber Karl. Er handelt mit schwarzem Benzin.« Das Mädchen zuckte die Achseln. Ihre Schultern gehörten zu ihren Knien, sie waren vierzehnjährig. »Sie ist eine Hur'«, sagte sie. Im Zimmer begann es dunkel zu werden. Es donnerte. Das Mädchen fuhr auf. »Wie Bomben«, sagte sie. »Weil sie mit dem Huber Karl geht, ist sie noch keine Hur'«, sagte der Vater hartnäckig. »Gestern war ein Schwarzer bei ihr«, sagte das Mädchen. »Er war besoffen.« »Wahrscheinlich hat er das Bier gebracht«, sagte der Mann. Das Mädchen sah zum Fenster hinaus. »Soll ich vielleicht auch eine Hur' werden?« sagte sie. »Dich nimmt keiner«, sagte ihr Vater. Das Mädchen stand auf. »Du kannst die Kartoffeln haben«, sagte sie. »Ich brauche nichts.« Sie warf die Tür hinter sich ins Schloß. ... ...