Titel - Victor Hugo - Der Rhein

Inhalt

Vorwort

1938

1. Brief

Von Paris nach Ferté-sous-Jouarre

2. Brief

Montmirail. Montmort. Épernay

3. Brief

Chalons. Ste.-Menehould. Varennes

4. Brief

Von Villers-Cotterets an die Grenze

5. Brief

Givet

6. Brief

Das Ufer der Maas. Dinant. Namur

7. Brief

Das Ufer der Maas. Huy. Lüttich

8. Brief

Das Ufer der Weser. Verviers

9. Brief

Aachen. Das Grab Karls des Großen

10. Brief

Köln

11. Brief

Bemerkungen zum Haus Ibach

12. Brief

Bemerkungen zum Wallraf-Museum

13. Brief

Andernach

14. Brief

Der Rhein

15. Brief

Die Maus

16. Brief

Querfeldein

17. Brief

Sankt Goar

18. Brief

Bacharach

19. Brief

Feuer! Feuer!

20. Brief

Von Lorch nach Bingen

21. Brief

Legende vom schönen Pécopin und der schönen Bauldour

I Sage

II Der Vogel Phönix und der Planet Venus

III Wo der Unterschied zwischen dem Ohr eines jungen Manns und dem Ohr eines Alten erklärt wird

IV Wo die verschiedenen Eigenschaften unterschiedlicher Botschaften behandelt werden

V Gute Wirkung eines guten Gedankens

VI Wo man sieht, daß sogar der Teufel Unrecht daran tut, Feinschmecker zu sein

VII Freundschaftliche Vorschläge eines alten Weisen, der sich in eine Laubhütte zurückgezogen hatte

VIII Der umherirrende Christ

IX In dem man sieht, wie sich ein Zwerg in einem Wald vergnügen kann

X Equis canibusque

XI Welchen Dingen man sich aussetzt, indem man ein unbekanntes Pferd besteigt

XII Beschreibung einer üblen Herberge

XIII Wie die Herberge, so die Tafel

XIV Neue Art vom Pferd zu fallen

XV Wo man sieht, welche Redensart der Liebe Gott am liebsten benutzt

XVI In dem die Frage behandelt wird, ob man Jemanden wiedererkennen kann, den man nicht kennt

Unwesentliches beim Tor

XVIII In dem die ernsten Geister lernen werden, welches die unverschämteste Metapher ist

XIX Schöne und weise Aussprüche von vier gefiederten Philosophen auf zwei Beinen

22. Brief

Bingen

23. Brief

Mainz

24. Brief

Frankfurt am Main

25. Brief

Der Rhein

26. Brief

Worms. Mannheim

27. Brief

Speyer

28. Brief

Heidelberg

1839

29. Brief

Straßburg

30. Brief

Straßburg

31. Brief

Freiburg im Breisgau

32. Brief

Basel

33. Brief

Basel

34. Brief

Zürich

35. Brief

Zürich

36. Brief

Zürich

37. Brief

Schaffhausen

38. Brief

Der Rheinfall

39. Brief

Vevey. Chillon. Lausanne

Schlußbetrachtungen

Editorische Notiz


Vorwort

Vor einigen Jahren reiste ein Schriftsteller – derselbe, der diese Zeilen verfaßt hat – einzig mit dem Ziel, Bäume und den Himmel zu schauen: zwei Dinge, die man in Paris nicht sieht, und wie der Leser beim Durchblättern der ersten Seiten feststellen wird, war dies sein einziges Trachten. Wie er so mehr oder weniger vom Zufall geleitet dahinzog, kam er an die Gestade des Rheins.

Die Begegnung mit dem großen Strom rief in ihm etwas wach, das bis dahin kein Augenblick seiner Reise in ihm wachzurufen vermocht hatte: Er wurde vom Wunsch nach einem greifbaren Ziel sei­ner streunenden Gedanken beseelt. Dieser Wunsch verlieh seinem unsteten Ausflug regelrecht eine Richtung und seinen Studien eine Mitte – kurzum, er entführte ihn aus der Träumerei hinein in die Nachdenklichkeit.

Der Rhein ist ein Strom, von dem alle Welt spricht und mit dem sich niemand beschäftigt; den Jeder besucht und Keiner kennt; den man im Vorübergehen sieht und schnellstens vergißt; den jeder Blick streift und dem kein Geist auf den Grund geht. Dabei werden die hochgespannten Vorstellungen insbesondere von den Ruinen bestimmt, während sein Schicksal die ernsten Köpfe beschäftigt. Und dieser bewundernswerte Strom läßt unter der Klarheit seiner Wellen sowohl vor dem Auge eines Dichters wie dem Blick eines Lohnschreibers beides: die Vergangenheit und die Zukunft Europas erahnen.

Der Dichter widersteht schwerlich der Versuchung, sich in dieser zweifachen Hinsicht näher mit dem Rhein zu beschäftigen. Die Betrachtung der Vergangenheit in den vergehenden Denkmalen, die Berechnung der Zukunft aus den möglichen Folgen bestehender Tatsachen – sie rühren an den Nerv des Altertumsforschers und des Träumers gleichermaßen. Ohne Zweifel erhebt sich der Rhein eines Tages – vielleicht schon bald – zur Schlüsselfrage des Kontinents. Warum also nicht jetzt schon vorweg die Gedanken ein wenig in diese Richtung lenken? Mag man auch vermeintlich unauf­schiebbar mit anderen Studien befaßt sein, die nicht minder bedeutend, nicht minder einträglich, jedoch in Raum und Zeit aufschiebbar sind, sollte man sich einiger ernster Anstrengungen des Geistes widmen, sobald sie sich stellen.

Sofern die Seele desjenigen, den man einen Dichter nennt, in einer jener entscheidenden Epochen der Zivilisation lebt, verbinden sich in dieser Naturalismus, Geschichte, Philosophie, Menschen und Ereignisse auf eine Weise, daß der Dichter wie jeder andere stets bereit sein muß, sich den praktischen Fragen zu stellen. Notfalls muß er unmittelbar eingreifen und Hand anlegen. Es gibt Tage, an denen sich jeder Bürger als Soldat erweisen, jeder Passagier sich als Matrose betätigen muß. In dem illustren und großartigen Jahrhundert, in welchem wir uns befinden, vom ersten Tag an nicht vor den Herausforderungen des Schriftstellers zurückgeschreckt zu sein, heißt, niemals davor zurückgeschreckt zu sein. Während eine Art von Ver­antwortung darin besteht, die Nationen zu regieren, besteht eine an­dere darin, zu den Geistern zu sprechen, und ein empfindsamer Mensch, wie schwach er auch sein mag, wird seine Aufgabe ernst nehmen, sobald er sie einmal auf sich genommen hat. Die Tatsachen zusammentragen, die Dinge mit eigenen Augen sehen, die Schwierigkeiten ermessen, wenn möglich, gemeinsam Lösungen finden – darin liegt recht verstanden, sein Auftrag. Er erspart sich nichts, er wagt, versucht, trachtet danach zu verstehen und, wenn er verstanden hat, zu erklären. Er weiß, daß in der Beharrlichkeit eine Kraft liegt. Diese Kraft läßt sich stets gegen seine Schwäche aufwiegen. Der Wassertropfen, der auf den Fels fällt, durchbohrt den Berg; warum sollte ein Wassertropfen, der aus dem Geist fällt, nicht die Probleme der Geschichte durchdringen?

In diesem Sinn unternimmt der Schriftsteller, der hier spricht, in vollem Bewußtsein und mit ganzer Hingabe das schwere Werk, das vor ihm liegt. Und nach drei Monaten wahrlich unterschiedlichster Nachforschungen schien es ihm, als bringe er von dieser Reise eines Archäologen und Wißbegierigen mit dem Ertrag an Dichtung und Erinnerungen vielleicht einen Gedanken zurück, der seinem Land unmittelbar nützlich sein kann.

Sehr gemischte Studien ist der zutreffende Ausdruck – den er hier, um nicht mißverstanden zu werden, vermeidet. Indem er sich bemüht, der Frage nach der Zukunft auf den Grund zu gehen, die der Rhein aufwirft, unterschlägt er nichts, und man wird an anderer Stelle sehen, daß ihn die Erforschung der Vergangenheit wenngleich nicht tiefgründiger, so doch gewohnheitsmäßiger beschäftigt hat – was sich übrigens von selbst versteht. Die Vergangenheit liegt vor uns in Trümmern, die Zukunft existiert lediglich als Keim. Es reicht, daß man sein Fenster zum Rhein hin öffnet, und man sieht die Ver-angenheit. Um die Zukunft zu sehen, muß man – der Ausdruck sei gestattet – ein Fenster zu sich hin öffnen.

Was die Gegenwart betrifft, kann der Reisende zunächst zwei Dinge feststellen: Erstens, der Rhein ist viel französischer ist als die Deutschen denken. Zweitens: die Deutschen sind Frankreich viel weniger feindlich gesinnt, als die Franzosen meinen.

Diese doppelte, vollkommen gesicherte und unumstößliche Überzeugung des Verfassers wird einer der Ausgangspunkte bei der Untersuchung der Rheinfrage sein.

Unterdessen hat er unterwegs die verschiedenen Dinge, welche er im Lauf dieser Exkursion empfunden oder beobachtet, erfahren oder erraten, gesucht oder angetroffen, gesehen oder vermutet hat, in den Briefen festgehalten, deren ganz natürliche und unbefangene Entstehung dem Leser erklärt werden muß: Es handelt sich dabei um eine alte, zwölf Jahre währende Gepflogenheit. Jedesmal, wenn er Paris verläßt, bleibt dort ein verständnisvoller und teurer Freund zurück, der von seinen Pflichten, die es ihm kaum gestatten, sein Landhaus zwölf Kilometer außerhalb der Stadt aufzusuchen, in der Großstadt zurückgehalten wird. Diesen Freund, welcher seit ihrer beider Jugend an all ihren Unternehmungen und Träumen teilhatte, verlangt es nach den langen Briefen des abwesenden Freundes, der sie wiederum während seines Fortseins schreibt. Was in ihnen steht, ist leicht ersichtlich: Sie enthalten die alltäglichen Ergüsse: über die Zeit, die er heute verbracht hat; die Art und Weise des gestrigen Sonnenuntergangs, den schönen Abend oder den verregneten Morgen. Sie handeln von den Wagen, Postkutschen oder Karren, die der Reisende bestieg, den Gasthausschildern, den Stadtansichten, der Form dieses Baums am Wegesrand, den Plaudereien in der Berline oder auf der Imperiale; dem Besuch eines großen Grabmals, der Begegnung mit einer großen Sehenswürdigkeit, der Erforschung eines großen Gebäudes, einer Kathedrale oder eines Dorfes (denn die Dorfkirche ist nicht minder großartig als die Kathedrale – Gott ist in der einen wie der andern zu Hause). Sie enthalten alle vorüberziehenden Geräusche, die das Ohr vernimmt und die von Träumereien begleitet werden: das Geläut der Glocken, das Spiel auf dem Amboß, das Knallen der Peitsche des Kutschers, den auf der Schwelle eines Gefängnisses vernommenen Schrei, den Gesang des jungen Mädchens, den Fluch des Soldaten. Sie enthalten die Schil-derung aller Länder, die immer wieder unterbrochen wird von den Abschweifungen ins süße Land der Phantasie, von dem Montaigne spricht, wo die Träumer so gern verweilen. Sie enthalten diese Fülle an Abenteuern, die nicht dem Reisenden, wohl aber seinem Geist begegnen. In einem Wort: es ist Alles und es ist Nichts, es ist viel eher das Tagebuch eines Gedankens als das einer Reise.

In dem Maß, wie sich der Körper Dank der Eisenbahn, der Diligence oder des Dampfschiffs fortbewegt, bewegt sich auch die Vorstellung. Die Einbildungskraft des Gedankens überquert die Meere ohne Schiff, die Flüsse ohne Brücke und die Berge ohne Pfad. Der Geist eines jeden Träumers trägt Siebenmeilenstiefel. Beide Reisen durchdringen einander – das ist, was in den Briefen steht.

Der Reisende ist den ganzen Tag gewandert, hat Ideen, Trugbilder, Zwischenfälle, Eindrücke, Erscheinungen, Märchen, Überlegungen, Wirklichkeiten, Erinnerungen gesammelt, aufgenommen oder gepflückt. Am Abend kehrt er in einer Herberge ein, und wäh­end das Essen zubereitet wird, verlangt er nach Feder, Tinte und Papier, zieht sich ans Ende eines Tischs zurück und schreibt. Jeder dieser Briefe ist ein Beutel, in den er die Ausbeute seines Geistes während des Tages leert. Dabei verhehlt er nicht, daß sich in diesem Beutel oft mehr Kreuzer befinden als Taler.

Zurück in Paris trifft er seinen Freund wieder, ohne weiter an sein Tagebuch zu denken.

Seit zwölf Jahren hat er auf diese Weise zahllose Briefe geschrieben: über Frankreich, über Belgien, über die Schweiz, den Ozean und das Mittelmeer – und hat sie vergessen. Sogar die Briefe über den Rhein hatte er vergessen, bis er sich ihrer vor einem Jahr durch eine Verkettung von Umständen erinnerte, was der Erklärung bedarf:

Man erinnert sich, daß vor etwa sechs oder acht Monaten plötzlich die Rheinfrage entfacht wurde. Ausgezeichnete und überdies noble Geister haben sie seinerzeit in Frankreich recht lebhaft erörtert und dabei, wie es fast stets der Fall ist, zwei äußerst gegensätzliche Stellungen bezogen. Die einen haben die Verträge von 1815 für einen fait accompli angesehen und davon ausgehend das lin­ke Rheinufer Deutschland überlassen, wofür sie nichts verlangten als dessen Freundschaft; die anderen, die mehr als je zuvor und – nach unserer Auffassung mit Recht – protestierten, beanspruchten nachdrücklich das linke Rheinufer und wiesen die Freundschaft Deutschlands zurück. Erstere opferten den Rhein dem Frieden, die anderen opferten den Frieden dem Rhein. Nach unserer Auffassung hatten die einen wie die anderen sowohl Unrecht als auch Recht. Uns war, als gäbe es zwischen diesen beiden unvereinbaren und diametral entgegengesetzten Auffassungen Raum für eine versöhnliche Meinung. Auf dem Recht Frankreichs beharren, ohne das Nationalgefühl Deutschlands zu verletzen – das war das hübsche Problem, dessen Lösung der Verfasser dieser Zeilen auf seiner Reise den Rhein entlang zu erkennen glaubte.

Nachdem ihm diese Idee einmal gekommen war, erschien sie ihm nicht als solche, sondern vielmehr als eine Verpflichtung. Seiner Meinung nach verlangt jede Pflicht nach Erfüllung. Liegt da eine Frage im Dunkeln, die Europa – und also die gesamte Menschheit – interessiert, gilt es, selbst das kleinste Licht dahinein zu bringen. Dem Gesetz Spartas entsprechend muß der menschliche Verstand in gewissen Fällen seine Meinung zum Ausdruck bringen. Folglich schrieb er gleichsam ohne literarischen Anspruch, jedoch mit dem einfachen und ernsthaften Gefühl einer zu erfüllenden Pflicht, jene zweihundert Seiten, welche den zweiten Band dieser Veröffentli­chung beschließen und sorgte für ihr Erscheinen.

Im selben Augenblick, da er sie herausgeben wollte, befiel ihn der Zweifel: Was stellten diese zweihundert Seiten, für sich, losgelöst von all dem, was in den Gedanken des Autors während seiner Erforschung des Rheins umgegangen war, dar? Haftete dem Erscheinen dieser besonderen und unerwarteten Schrift nicht etwas Unvermitteltes und Seltsames an? Müßte er nicht vorausschicken, daß er den Rhein aufgesucht hatte, und würde man sich daraufhin nicht mit Recht wundern, daß er, Dichter aus Berufung und Ar­chäologe aus Neigung, den Rhein lediglich als eine Frage der inter­nationalen Politik betrachte? Zweifellos könnte es nützlich sein, sich einer aktuellen Frage historisch anzunähern – aber verdiente der Rhein, dieser auf der Welt einzigartige Strom, es nicht, ein wenig um seiner selbst willen und als etwas Eigenständiges betrachtet zu werden? Wäre es nicht wahrhaft unerklärlich, daß der Autor an den Kathedralen vorbeigekommen war, ohne sie zu betreten; an den Burgen, ohne sie zu besteigen; an den Ruinen, ohne sie zu betrachten; an dieser Vergangenheit, ohne sie auszuloten; an dieses Phantasma, ohne sich darin zu versenken? Besteht nicht eine Pflicht eines jeden Schriftstellers darin, sich selbst treu zu sein, sibi constet, sich nicht anders hervorzutun, als wie man ihn kennt und nicht anders aufzutreten, als wie man es erwartet? Sich anders zu verhalten – hieße das nicht, die Öffentlichkeit verwirren, die eigentliche Wirklichkeit der Reise den Zweifeln und Spekulationen auszusetzen und auf diese Weise das Vertrauen aufs Spiel zu setzen?

Das gab dem Verfasser zu denken. Das Vertrauen zu einer Zeit schwächen, wo man es am nachdrücklichsten beansprucht; Selbstzweifel nähren, wo Glaube gefragt ist; das Vertrauen seiner Zuhörerschaft nicht vollständig gewinnen, während man die Stimme für etwas erhebt, das man für seine Pflicht erachtet – das alles hieße: sein Ziel verfehlen.

Und so fielen ihm wieder die Briefe ein, die er während seiner Reise geschrieben hatte. Er las sie erneut und mußte erkennen, daß sie allein durch ihre Wirklichkeitstreue einen unbestreitbaren und natürlichen Ruhepunkt seiner Schlußfolgerungen hinsichtlich der Rheinfrage bildeten; daß die Vertrautheit gewisser Einzelheiten, die Genauigkeit bestimmter Schilderungen, das Persönliche gewisser Eindrücke ein weiterer Beweis waren; daß all diese wahrhaftigen Dinge sich dem Nutzen wie Tragwerke hinzufügten; daß in gewisser Hinsicht die von Launen gezeichnete und in den Augen einiger mißmutiger Geister poesiebefleckte Reise des Träumers dem Ansehen des Denkers abträglich sein könnte; daß man andererseits wiederum durch größere Strenge eine geringere Wirkung riskierte; daß das Ziel dieser bedauerlicherweise höchst unzureichenden Veröffentlichung darin bestand, einen Fall von Haß freundschaftlich zu lösen; und daß die Leser in jedem Fall, von dem Augenblick an, da der Gedanke des Schreibers, sei er noch so persönlich und bemäntelt, ihnen aufrichtig dargeboten würde, unabhängig vom Ergebnis, und selbst wenn sie mit den daraus gezogenen Schlüssen des Buchs nicht einverstanden wären, dennoch den Überzeugungen des Verfassers ge­wiß Glauben schenkten. – Das wäre bereits ein großer Schritt, und um das Übrige kümmert sich vielleicht die Zukunft.

Nach Auffassung des Autors scheinen dies die zwingenden Gründe, die ihn dazu veranlaßt haben, diese Briefe ans Licht der Welt zu bringen und an Stelle der zweihundert Seiten die beiden Bände über den Rhein zu veröffentlichen.

Hätte der Verfasser diese Reisekorrespondenz nur aus persönlichen Gründen veröffentlicht, hätte er wahrscheinlich beträchtliche Veränderungen vorgenommen; er hätte zahlreiche Einzelheiten fortgelassen; er hätte insbesondere die Vertraulichkeit und das Lächeln gestrichen; er hätte sorgfältig das ‚Ich’ entfernt und ausgejä­tet, dieses Unkraut, das stets unter der Feder des Schriftstellers wu­chert, der sich zu Vertraulichkeiten hinreißen läßt. Er hätte vielleicht sogar aus einem Gefühl seiner Minderwertigkeit auf die Briefform verzichtet, deren Gebrauch seiner Meinung nach einzig den Geis­tesgrößen gegenüber ihrem Publikum zusteht. Aber aus dem er­wähnten Grund wären Änderungen Verfälschungen gleichgekom­men; diese Briefe, die sich dem Anschein nach gar nicht zu Schlußfol­gerungen eignen, werden zu einer Art Beweisstück; jeder einzelne ist ein Dokument der Durchreise und der Anwesenheit; das Ich ist hier eine Bestätigung, die zu verändern bedeutete, die literarische Form an die Stelle der Wahrheit zu setzen. Es bedeutete einmal mehr, das Vertrauen aufs Spiel zu setzen und infolgedessen das Ziel zu verfehlen.

Man darf nicht vergessen, daß diese Briefe, die vielleicht nicht einmal zwei Leser hätten, dazu da sind, ein versöhnliches Wort an zwei Völker zu richten. Was bedeuten angesichts eines so großen Ziels die kleinen Koketterien und die Feinheiten der literarischen Kosmetik! Es ist die Wahrheit, die sie ziert.

Der Autor hat sich deshalb entschlossen, sie nahezu so zu veröffentlichen, wie sie geschrieben wurden.

Er sagt „annähernd“, um nicht zu verhehlen, daß er nichtsde­stoweniger einige Auslassungen und einige Veränderungen vorge­nommen hat, aber diese Änderungen sind für die Öffentlichkeit ohne Belang. Sie dienen zumeist keinem anderen Zweck, als zur Vermeidung von Wiederholungen oder um Dritten, Unbeteiligten, Unbekannten, denen man begegnete, einen Vorwurf, eine Indiskretion oder die Unannehmlichkeit zu ersparen sich wiederzuerkennen. Für die Öffentlichkeit ist es beispielsweise uninteressant, daß alle Enden der Briefe mit Einzelheiten aus der Familie fortgelassen wurden; es ist für sie ohne Bedeutung, wenn der Ort, an dem sich ein Unfall ereignete, ein Rad brach, ein Gasthof brannte, geändert wurde. Für den Autor zählt, daß er sagen kann: Dies ist ein Buch nach bestem Wissen und Gewissen, das nach Form und Inhalt Briefen ent­spricht. Neugierigen, die sich für derartige Einzelheiten interessie­ren, könnte man alle Teile dieses Reisetagebuchs amtlich frankiert und mit Poststempel vorlegen.

Dergleichen Vertraulichkeiten großer Schriftsteller – und es ist unnötig, hier berühmte Beispiele anzuführen, die Jedem erinnerlich sind – üben einen gewaltigen Reiz aus. Der schöne Stil erweckt Alles zum Leben. Bei einem einfachen Reisenden besteht ihr Wert, wie schon gesagt, einzig in ihrer Aufrichtigkeit. In dieser Hinsicht und nur deshalb haben sie bisweilen ihren Wert. Sie gehören, zusammen mit dem Mönch von Sankt-Gallen1, mit dem Bürger von Paris unter Philipp Augustus, mit Jean de Troyes zu den nützlichen Quellen, welche man zu Rate zieht; und es kommt ihnen als aufrichtige und ernstzunehmende Dokumente bisweilen später das Verdienst zu, Philosophie und Geschichte dabei zu unterstützen, den Geist einer Epoche und einer Nation zu einem gegebenen Zeitpunkt zu charak-terisieren. Soweit diesen beiden Bänden überhaupt ein Anspruch zu­kommt, erhebt der Verfasser keinen anderen als diesen.

Man möge darin auch nicht nach dramatischen Abenteuern und pittoresken Vorkommnissen suchen. Wie der Verfasser schon auf den ersten Seiten dieses Buchs dargelegt hat, reist er allein3 und einzig mit dem Ziel, viel zu träumen und wenig zu denken. Auf sei­nen stillen Ausflügen trägt er alte Bücher bei sich; er nimmt, wennihm sein eigener Ausdruck gestattet sei, zwei alte Freunde mit: Vergil und Tacitus – Vergil, oder alle Poesie, die der Natur entspringt; Tacitus, beziehungsweise alles Denken, das aus der Geschichte hervorgeht.

Überdies verweilt er, wann immer und überall, wo es ihm beliebt, zurückgezogen in der Stille und im Dämmerlicht, welche beide die Beobachtung fördern. An dieser Stelle sind einige Worte der Er­lärung unverzichtbar. Bekanntlich sorgt die außergewöhnliche Resonanz der so mächtigen, so fruchtbaren und übrigens so nützlichen französischen Presse schon bei geringeren Namen der Pariser Literatur für einen Widerhall, der es selbst dem bescheidensten und unbedeutendsten Schriftsteller unmöglich macht, zu glauben, daß er außerhalb Frankreichs vollkommen unbekannt sei. Aufgrunddessen muß der Beobachter, sofern er Wert auf die Unabhängigkeit seines Denkens und Handelns legt, wer immer er sei und sobald er sich nur ein wenig der Öffentlichkeit gezeigt hat, das Inkognito hüten, als handele es sich um Etwas und das Anonyme, als wäre es Jemand. Mögen sie in seinem Fall gewiß überflüssig gewesen und ihm geradezu lächerlich erschienen sein, traf der Verfasser während seiner Reise an den Ufern des Rheins dennoch derartige Vorsichtsmaßnahmen, mit denen sich der Reisende die Vorteile des Schattens sichert. Immerhin konnte er auf diese Weise nach Belieben und in aller Freiheit seine Aufzeichnungen machen, ohne daß irgendetwas seine Neugier oder seine Meditation gestört hätte auf dieser Wanderung der Phantasie, die – wie wir glauben, hinreichend dargelegt zu haben – der Zufälligkeit der Gasthöfe und Stammtische weiten Raum ließ und die sich mit Klapperkisten und Postschesen ebenso zufrieden gab, wie mit der Bank einer Diligence und dem Zelt eines Dampfboots.

Was Deutschland angeht, das in seinen Augen der natürliche Partner Frankreichs ist, so glaubt er, es in den Betrachtungen am Ende des zweiten Bands1 gerecht gewürdigt und als das gesehen zu haben, was es ist. Daß sich kein Leser an zwei oder drei Wörter stößt, die in diese Briefe eingestreut sind, aber mit Rücksicht auf Aufrichtigkeit stehengelassen wurden. Der Autor verwahrt sich nachdrücklich gegen alle ironische Absicht. Er verhehlt nicht, daß Deutschland eines der Länder ist, das er liebt und eine der Nationen, die er bewundert. Er hegt beinah Gefühle eines Kindes für dieses edle und heilige Vaterland aller Denker. Wäre er kein Franzose, er würde Deutscher sein wollen.

Der Verfasser meint, diese Vorbemerkung nicht schließen zu dürfen, bevor er die Leser nicht über einen letzten Zweifel in Kenntnis gesetzt hat, der ihn überkam. Das Buch war fertig gedruckt, als er auf die jüngsten Ereignisse aufmerksam wurde, die noch in diesem Augenblick Paris beschäftigen und zu denen zwei Zeilen in Kapitel 15 der Schlußbemerkungen in einen unmittelbaren Bezug zu stehen scheinen. Daher fragte sich der Autor, der stets das Ziel verfolgte, zu besänftigen, anstatt anzustacheln, ob er die zwei Zeilen nicht löschen solle. Nach einigem Nachdenken entschloß er sich, sie stehenzulassen. Es genügt, daß man auf das Datum schaut, als jene Zeilen geschrieben wurden, um festzustellen, daß, was immer zu jener Zeit im Kopf des Verfassers umging, er eine Vorahnung gehabt haben mag, daß er indes gewiß keinen direkten Bezug beabsichtigt hat – was auch nicht sein konnte. Bedenkt man die allgemeinen Umstände unserer Tage, wird man erkennen, daß die Voraussicht selbst in ihrer Form, in der sie zufällig genau so eingetroffen ist, darauf hinauslaufen muß. Gesteht man diesen beiden Zeilen einen Sinn zu, so sind es nicht sie, die sich über die Ereignisse gelegt haben; vielmehr sind es die Ereignisse, die sich ihnen unterschieben. Kein Schriftsteller mit Verstand, dem das nicht vorgekommen wäre. Bisweilen begegnet man beim Studium der Gegenwart etwas, das der Zukunft gleicht. Der Verfasser hat daher die beiden Zeilen gelassen, wie sie sind; genauso, wie er beschlossen hatte, in dem Sammelband Feuilles d’automnes die Verse mit dem Titel Rêverie d’unpassant à propos d’un roi aufzunehmen, ein kleines Gedicht, das im Juni 1830 verfaßt wurde und die Julirevolution ankündigt.

Was die beiden Bände als solche betrifft, hat der Verfasser nichts hinzuzufügen. Verböte ihr geringer Wert nicht, sie mit anderen Werken gleichzusetzen oder zu vergleichen, könnte der Autor sich den Hinweis nicht versagen, daß dieses Werk, welches einen Fluß zum Gegenstand hat, durch ein merkwürdiges Zusammentreffen ganz unvermittelt und natürlich selbst das Bild eines Stroms hervorruft: Es beginnt wie ein Bach; durchquert eine Schlucht bei einer Ansammlung von Hütten, unter einer kleinen Bogenbrücke hindurch; streift das Wirtshaus im Dorf, die Herde auf der Weide, das Federvieh in den Sträuchern, den Bauer auf seinem Pfad, um sich dann zurückzuziehen. Der Strom berührt ein Schlachtfeld, eine berühmte Ebene, eine Großstadt; er schwillt an, ergießt sich in dieNebel am Horizont, spiegelt Kathedralen, trifft auf Hauptstädte, überquert Grenzen, und nachdem er die Bäume, Felder, Sterne, Kirchen, Ruinen, Siedlungen, Kähne und Segel, die Menschen und die Ideen, die Brücken, welche zwei Dörfer verbinden und die Brücken, welche zwei Nationen verbinden, gespiegelt hat, trifft er schließlich am Ziel seines Laufs und dem Ende seiner Verbreiterungden zweifachen, abgründigen Ozean der Gegenwart und der Vergangenheit, der Politik und der Geschichte.

 

Paris, im Januar 1842

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