INHALT
In der Wüste Sinai, 14. März, nachm.,
16. März
17. März
19. März
22. März
25. März
26. März
27. März
28. März
29. März
30. März
7. April
8. April
10. April
12. April
14. April
15. April
17. April
19. April
20. April
22. April
24. April
26. April
27. April
29. April
1. Mai
5. Mai
6. Mai
9. Mai
11. Mai
12. Mai
13. Mai
16. Mai
18. Mai
21. Mai
23. Mai
25. Mai
27. Mai
31. Mai
6. Juni
9. Juni
10. Juni
14. Juni
15. Juni
18. Juni
Es–Salt (Transjordanien), 20. Juni
21. Juni
22. Juni
27. Juni
29. Juni
3. Juli
5. Juli
8. Juli
9. Juli
12. Juli
2. August
3. August
Medschdel esch-Schems, 6. August
12. August
13. August
15. August
17. August
19. August
20. August
23. August
24. August
26. August
28. August
30. August
1. September
9. September
10. September
12. September
In den Dardanellen, 20. September
23. September
25. September
28. September
1. Oktober
2. Oktober
3. Oktober
4. Oktober
6. Oktober
La Valetta (Malta), 10. Oktober
Es gibt sicherlich viele Gründe, das Reisetagebuch von Leopold Weiss zu veröffentlichen, das 1924 erschien – die Beobachtungen eines noch jungen, erfahrungshungrigen Mannes in einer ihm fremden Welt, ein kleines, mit Photographien versehenes Buch, das ein wenig in Vergessenheit geriet über den weitaus populäreren Weg nach Mekka des Autors als reifer Mann dreißig Jahre und um viele Erfahrungen – darunter die des Nationalsozialismus - reicher und bekannter unter dem Namen Muhamad Asad. Mir scheint, daß eine Bemerkung Musa al-Husaynis aus einem Gespräch mit dem jugendlichen Reisenden damals dem Buch vor dem Hintergrund der Ereignisse in Israel und der unheiligen Allianz der Bundesrepublik mit einem Staat, der sich anmaßt, Staat aller Juden zu sein, heute besondere Aktualität verleiht. Jener noch im osmanischen Reich geborene ehemalige Bürgermeister von Jerusalem in den Jahren 1918-20 und Führer des Palestine Arab Congress von 1922 bis zu seinem Tod 1934 stellte schon seinerzeit fest, es sei „die Schuld der Zionisten, wenn heute der Mann aus dem Volke ‚Juden‘ und ‚Zionisten‘ identifiziert und seinen Haß gegen alles Jüdische richtet.“
All jenen, die – seit längerem schon – auch nur den Anschein einer Kritik des Zionismus und an der Politik des Staates Israel, der sich darauf beruft, erkennen lassen, sei Weiss bzw. Asad nämlich ein Beispiel für den ‚wahren‘, den eigentlichen Semiten, auf den allein sich der ‚Antisemit‘ rechtmäßig beziehen kann: als den Angehörigen einer von den Orientalisten des 18. und 19. Jahrhunderts erkundeten und konstruierten Sprachgemeinschaft, welche sowohl ‚Hebräer‘ – mithin Juden – als auch ‚Araber‘ – größtenteils Anhänger des Islam – zusammenfaßt. Mit anderen Worten: Wer, um es drastisch auszudrücken, den Juden, den ‚Hebräer‘ Weiss haßt, der muß auch den ‚Muslim‘ Asad hassen. Und tatsächlich war dieser nach den Erfahrungen seiner Reise durch die arabische Welt zum Islam konvertierte Jude als scharfer Kritiker des Zionismus unter Zionisten nicht wohl gelitten. Seine über die Sprachgemeinschaft hinausreichende Seelenverwandtschaft als Jude mit den Arabern erklärt im übrigen, weshalb Anhänger rechtsradikaler Parteien wie etwa der niederländische Politiker Geert Wilders sich für die Sache des Zionismus und die Politik des Staates Israels stark machen: weil nämlich der zionistische Staat dieselben Ressentiments, dieselbe bis zum Haß gesteigerte Feindseligkeit gegenüber den ‚Arabern‘ (und den Antizionisten unter den Juden) an den Tag legt, wie jene gegenüber Juden und Moslems als Semiten gleichermaßen.
Köln, August 2025
(Frankfurt/Main 1923)
Wenn ein Europäer in irgend einem Land Europas reist, in einem ihm fremden Land – sei es Frankreich, Italien oder Ungarn –, befindet er sich immer noch in seinem eigenen, wenn auch erweiterten Umkreis, und die Differenz zwischen Alt und Neu ist eine überschaubare. Der Geist Europas ist einheitlich: wir leben in einem ziemlich geschlossenen Gewohnheitskreis von Assoziationen und können uns innerhalb seiner wie in einer gemeinsamen, übergeordneten Sprache verständigen. „Kulturgemeinschaft“: aber es ist auch seelische Trägheit. Ein Vorteil: aber wie alle Vorteile der Bequemlichkeit, erweist sich auch dieser als ein Nachteil. Es erweist sich, daß wir in dem „einheitlichen Geist“ eingelullt und gesichert sind wie in Wattebäuschen; daß wir das Seiltänzerische unserer Vorzeit verlernt haben, das Haschen nach den ungreifbaren Wesentlichkeiten; vielleicht nannte man sie in jener anderen Zeit: ungreifbare Möglichkeiten – aber es war immer nur die Jagd nach dem eigenen Leben. Auch wir in der Gegenwart suchen dieses eigene Leben – nur wollen wir es sichern, bevor es gefunden ist. Und wir ahnen die Sünde. Es ist schwer zu sagen, aber viele Europäer fühlen es heute unbewußt: die furchtbare Gefahr des Ungefährlichen.
Ich trete eine Reise an. Ich trete aus Europa heraus in ein Gebiet, dessen „Differenz“ nicht überschaubar ist dem unseren gegenüber. Wir wollen aus den Sicherungen unseres allzu einheitlichen Umkreises, in dem es wenig Ungewohntes und nichts Überraschendes gibt, herauskommen in die ungeheuerliche Fremdheit dieser „anderen“ Welt, die nicht die unsere ist, Unüberbrückbar fremd. Vereinsamend fremd – und in sich geschlossen.
Wir wollen uns nicht belügen: vielleicht können wir hier dies und jenes begreifen, dies und jenes unter hundert einprägsamen Vorgängen, so wie wir Schmerz oder Freude empfinden – aber wir können nicht wissend, mitlebend innerhalb des vollkommenen Ganzen leben, wie wir es in Europa tun: die Differenz ist eine unüberschaubare. Uns trennt von der „anderen“ Welt und ihren Menschen ein weiterer Raum, als wir es gemeinhin anzunehmen pflegen: wie sich verständigen? Es genügt nicht, ihre Sprache zu sprechen; um ihren Geist zu verstehen müßte man in ihren Kreis treten und in ihren Assoziationen leben. Kann man das?
Und – soll man das? Es wäre immer noch ein schlechter Tausch; unser Altgewohntes gegen fremdes Altgewohntes.
Aber sind wir deshalb von dieser Welt ausgeschlossen? – Nein, das Ausgeschlossensein beruht auf einem Irrtum, der im Zeichen unserer verdorbenen Entwicklung steht: wir unterschätzen das Schöpferische des Fremden, solange es eben Fremdes ist, und suchen es durch Übernahme in unseren Umkreis zu vergewaltigen, es „uns anzueignen“ (wie die Kultursnobs sagen). Aber es scheint, daß unsere Zeit der Unruhe dies heute nicht mehr verträgt und erkennt: Distanz will anders überwunden werden als durch geistige Vergewaltigung.
Weil diese fremde Welt so ganz anders ist als alles, was wir daheim kennen, weil sie so. viel exponierte Spitzen darbietet, streift uns zuweilen, da wir aufmerksam sind, ein Hauch, wie eine blitzartige Erinnerung an längst Gekanntes und Vergessenes, an jene ungreifbaren Wirklichkeiten unseres Lebens. Und zwar geschieht dies über alles Trennende hinweg, heftig und überwältigend manchmal, so daß man sich fragt, ob nicht vielleicht darin — und nur darin — der Sinn jeder Wanderung liegt: die Fremdheit der ganzen Welt berühren und erfassen und dadurch unsere eigenen, persönlichen, vergessenen Wirklichkeiten erwecken.
Jerusalem, im März 1923
Jerusalem, 14. März
Ich bin die weißgraue Bergstraße von der Altstadt zum Bahnhof in nebelzarter Dämmerung heruntergefahren. In meinen Knochen liegt die regnerische Kälte des Winters. Der Frühling nähert sich hier langsam —‚ er wird dann plötzlich da sein, kurz und grün, vor einem langen, trockenen Sommer. Dieselben Araber, die jetzt neben ihren bunten Säcken und Taschen gleich mir auf den Zug warten und sich fröstelnd in ihre langen Mäntel hüllen, werden wieder heiter und mit unbedenklichem Schritt über die Straßen laufen, und das Leben wird wieder breit und gelassen strömen‚ Der Winter, obwohl jährlich wiederkehrend, ist hier immer wider die Natur; er trifft immer auf unvorbereitete Menschen. Man wartet immer, bis er vorüber ist.
Ich will jetzt wieder nach Monaten des Wartens meinen eigenen Schritt fühlen.
In der Wüste Sinai, 14. März, nachm.,
Zuerst ließ man die rostbraunen Berge von Judäa hinter sich, sank langsam und fast unmerklich gegen die Ebene von Jaffa; stieg in dem kleinen Ort Ludd in einen neuen Zug, fuhr dann beharrlich südwärts durch Steppenland. An dem alten Gaza vorbei, das wie eine Burg aus Lehm, hinter Kakteenwällen, auf einem Sandberg sein verschollenes Leben fristet, langsam in die Dünenwellen der Wüste Sinai hinein. (Englische und türkische Truppen haben in harter Feindschaft, Meile um Meile, diese vorzügliche Bahnstrecke erbaut; zuerst die Türken bei ihrem Marsch auf den Suez–Kanal, und dann – mit einigen Änderungen – die Engländer, als sie siegreich von Ägypten nach Palästina zogen.)
Es geht langsam, da die Wüste sich nur allmählich und stückweise offenbart; der Zug aber saust mit europäischer Geschwindigkeit.
Plötzlich ist man mittendrin. In einem muschelfarbenen Licht. Draußen hinter den zitternden Fensterscheiben eine Stille ohnegleichen. Jeder Laut verschwimmt in der Luft ohne Echo, allen Formen und Bewegungen ist das Gestern und Morgen fremd – sie sind nur da, in berauschender Einmaligkeit. Zarter gelbrosa Sand, vom Wind in sanften Hügeln aufgebaut, und opalisierende Frühlingswolken. Kakteen manchmal, hie und da auch langstielige harte Gräser. Manchmal vereinzelte schwarze Zelte, drei, vier in lockeren Gruppen; Menschen, magere, barfüßige Beduinen, Frauen an Brunnen, in sagenhafter Anmut; manchmal am Horizont die Silhouette eines regungslosen Kamels; oder eine Kamelkarawane mit Lasten von Palmblättern, die sie irgendwoher irgendwohin schleppen. Zottige gelbe Hunde kläffen wütend den Zug an. Manchmal halten wir an einsamen Stationen, lose hingeworfenen Holz– und Wellblechbaracken; im Augenblick sind wir von einer kleinen Horde brauner, abgerissener Knaben umringt, die Früchte und gekochte Eier feilbieten. Auf dem Wüstensand nehmen sich die Lackstiefeletten des eleganten arabischen Schaffners sonderbar aus.
Als wir uns dann dem Meere nähern, bei El–Arisch, tauchen die Palmenoasen auf, kostbare Säulenpaläste mit tausend Rundbogen und braunem Gitterwerk von Schatten und Lichtern. Auf den Dünen am Meer, neben den kleinen spitzen Zelten, sind weit und silbergrau, wie ein Nebelvorhang im Wind, Fischernetze zum Trocknen auf Pfähle gespannt. Ich sehe, wie eine Frau – den gefüllten Tonkrug auf dem Kopf – vom Brunnen kommt und langsam einen Hügelpfad unter Palmen aufwärts schreitet. Sie ist wie eine hohe Frau aus der Legende. Sie trägt ein rot und blaues Kleid mit langer Schleppe.
Die Reisenden sind schweigend, wie umhüllt von der großen Landschaft. Es sind Beamte der palästinensischen Regierung, einige Amerikaner mit Familien, arabische Bauern und Kaufleute, jüdische Kolonisten; und dann eine große Zahl Unqualifizierbarer in langen Mängeln und bunten Tüchern; an ihrer Sprache und Eigenheiten ihrer Kleidung kann man höchstens noch erkennen, ob sie aus Ägypten oder Palästina Stammen – was sie tun, kann ich nicht erraten; lachende Mäuler und warme, wache Augen (... was sie tun, wir wohl etwas Menschenwürdiges sein). Auf einer Bank am Fenster kauert mit untergeschlagenen Beinen ein Beduine, arm, zerlumpt, wortlos – auf seinen Knien liegt ein silberbeschlagener krummer Säbel. Es ist sehr warm.
Jerusalem liegt weit zurück, diese sonderbarste aller Städte. In der Erinnerung bleibt vorherrschend der Eindruck von religiösem Fanatismus und Straßen, die intensiv nach rohem Fleisch und Leder riechen, von Menschenmassen in uralten Laubengängen, Basaren, lauten, schreienden, lebensgierigen Marktstraßen. Nirgends sonst – auch im übrigen Orient nicht – ist eine Stadt so ganz in festes, eigenstes Gesetz gebannt wie Jerusalem. Es ist ungeheuer gegenwärtig und unhistorisch in seinem Wesenskern, und die Historie selbst dient hier nur als Nährstoff für die große Gier, das eigene Leben bis an den Rand auszuleben. Dies ist die arabische Levante, die „ewige Stadt“ Jerusalem: ewig, weil immer gegenwärtig; gierig und gelassen zugleich, und im tiefsten Grund sehr unheilig, trotz Glockengeläute und Klagemauern. – Du bist unter die Heiden gegangen, alte Stadt; die Versunkenheit deiner Gassen dampft von verborgenem Leben... das nicht „Gottes Leben“ ist, sondern eher der Atem eines dunklen, diesseitigen Tieres. – Aber auf seiner Oberfläche, auf seiner politischen Seite ist Jerusalem (und Palästina) das Land der unbehaglichen Konflikte, die wie feiner Staub in die Lunge eindringen und den Atem austrocknen: der Zionismus hat sich unrettbar mit außerpalästinensischen, westlichen Gewalten verkettet und ist dadurch eine Wunde am Körper des Nahen Ostens.
Es sind die Reminiszenzen eines Menschen, der vom fahrenden Zug geschüttelt wird. Jetzt jagen wir durch die Wüste Sinai, und inmitten einer solchen großen Einsamkeit wird man mit sich selbst vertraut und die Gedanken kollern lose im Kopf herum.
Kantara (Suez–Kanal), abends
Gegen Abend ging der Sand in ein dunstiges Grau und Rosa über, die Wolken wurden schwerer und dämmrig–vielfarben; die tiefe Wüstenstille schloß sich hinter uns. Wir sind am Suez–Kanal und in Ägypten. Man fiel fast ohne Übergang in eine Atmosphäre aufrauschender Leidenschaftlichkeit. Neue und bunte Gestalten kamen, noch lange bevor wir den Suez–Kanal erreichten, in den Zug; sie sprachen laut und erregt: ohne die Worte zu hören, wußte man, daß sie von Politik sprachen.
Dann brachte eine träge Fähre die Reisenden über das stille Wasser des Kanals hinüber. – Jetzt ist schon Nacht. Ich sitze vor dem hölzernen Zollgebäude, die Luft ist warm und weich; und noch einmal: Wüste. Rechts und links. Grauschimmernd, verinnernd, von vereinzeltem Gebell durchbrochen. Schakale? Hunde? – Ein Beduine, mit schweren Satteltaschen aus buntem Teppichstoff bepackt, kommt aus dem Stationshaus heraus, geht auf eine Gruppe im Dunkel zu, die ich erst jetzt allmählich als reglose Männer und am Boden ruhende, marschfertig gesattelte Kamele erkenne. Der Neuangekommene war offenbar erwartet. Er wirft seinen Packsattel auf eines der Tiere, einige Worte werden halblaut gewechselt, die Männer steigen auf – und dann erheben sich die Kamele grunzend, zuerst mit den Hinterbeinen, dann mit den Vorderbeinen – der Reiter wippt nach vorn und nach hinten –, und dann verschwindet alles geräuschlos ... man sieht nur noch eine Weile die hellen schwankenden Leiber der Tiere und die weiten Beduinenmäntel.
Kairo, 15. März
Nachts aus der übersatten ägyptischen Landschaft, aus der mondlosen unendlichen Ebene: wie ein Sturz in die strahlende Bahnhofshalle von Kairo ... Wenn man durch die weiten, leeren und nicht übermäßig sauberen Straßen fährt und im Windhauch, der zart und fast ohne Substanz zu sein scheint, lose Papierfetzen über dem Asphalt wirbeln, und aus den offenen Türen (es ist der arabische Stadtteil) Musik und Rufe sich ineinanderschlingen und ein waches unverschwommenes Leben verraten: – es ist wie Glück.
16. März
Jetzt bin ich wieder mittendrin im schwingenden Rhythmus dieser Stadt. Ihre unmassigen, zartlinigen Häuser, die weltliche Sicherheit ihrer Menschen, die begnadete Atmosphäre, die ohne Last die Lungen füllt – sie durchdringen sich gegenseitig und lassen alles Starke und Helle zur Wirklichkeit werden. Wo das Wesen Kairos rein und ohne Fälschung ist – in seinen arabischen und levantinischen Teilen –, empfinde ich immer wieder die selbstgeborene innere Disziplin, die nur ein anderer Ausdruck für menschliche Gemeinsamkeit ist; und dies nicht etwa aus einem bewußten moralischen Willen heraus, wie ihn im Westen nur revolutionäre Gemeinschaften darstellen, sondern aus der natürlichen Spannung des Augenblicks, des Tages, des täglichen Lebens. Und es ist wie Flug und wacher Rausch – unvergänglich.
Ich habe meine alte Wohnung aus dem Herbst wieder bezogen, sie liegt in einer engen Gasse, in der arabische Handwerker und griechische Krämer – und keine „besseren Europäer“ wohnen. die Wirtin ist eine alte Triestinerin, groß, dick, gewaltig, grau, sie trinkt nach wie vor fast ununterbrochen ihren schweren griechischen Wein und läßt sich von ewig wechselnden Stimmungen tragen... Ist ihre Welt weit oder eng? Ich weiß es nicht und kann nicht dahinterkommen; aber trotzdem fühle ich mich gut in dieser menschlichen Bodenlosigkeit, denn sie entspringt einem gewaltsamen Temperament, das sich selbst nicht gefunden hat; und dann: eine so konsequente Unzuverlässigkeit kehrt sich schon fast ins Gegenteil.
In unmittelbarer Nähe liegt die Hauptstraße des Viertels. Am Tage lebendig und bei Nacht lebendig, schwirrend, vielstimmig. Straßen nachts – leise fortlaufende Erregung, wie ein Band aus flimmernden Leuchtpunkten auf dunklem Grund. Lichter und Rufe. Der Mensch am Anfang und der Mensch am Ende dieser Straße: ich fühle den Kontakt unter ihnen; ein Element, das sie alle verbindet und doch unbelastet in Freiheit läßt.
Vor einer Haustüre zwei bezaubernde graue Esel von so vollendeten Formen, von solcher Elastizität und Knappheit der Glieder, daß ich verblüfft und beglückt bin. Sie tragen große Sättel mit bunten Decken, silbernes Zaumzeug und silberne Kettchen, Ringe und Behänge, die bei jeder Bewegung klirren.
17. März
Ägypten steht heute im Bann eines Ereignisses, das zehn Tage zurückliegt, in seinem tatsächlichen Geschehen; aber es greift um Jahre zurück in seiner Entwicklung. Es war ein Bombenattentat. Ein neues Glied in einer langen Kette. Und das letzte Glied?
„Täter unbekannt.“ Zwei Bomben hintereinander: eine in das Signalzimmer des englischen Hauptquartiers und die andere in ein Café, das fast ausschließlich von englischen Soldaten besucht wird. Dieses Geschehnis wächst sich in der überreizten Luft zu einem tragischen Monstrum aus... Man hält den Atem an und wartet, nach zehn Tagen, auf irgendeine unerhörte Lösung der schwebenden Spannung. die englischen Repressalien, Belagerungszustände, politischen Verhaftungen und Zeitungsverbote werden keine Lösung bringen: es ist eine „Generalfrage“, die das Land in Krämpfen schüttelt: die Frage der Freiheit.
Jetzt ist wieder Abend. Ich liege auf dem Bett in meinem schmalen Zimmer, abgerissene Gedankenreste gehen wie Stichworte immer wieder hin und her und drehen sich immer um dasselbe: ... ägyptische Unabhängigkeitsbewegung, ... englisches „Protektorat“, d.h. Schutz des Suez–Kanals ... und außerdem – Ägypten ist ein reiches Land, das Königreich der Baumwolle ... und der englische Markt ist Hauptabnehmer für Baumwolle ... Aber geht es den Ägyptern heute um Baumwolle? ... Nur noch die Plantagenmagnaten, die Latifundienbesitzer sind versöhnlich und konziliant und liberal gestimmt; die zahllosen anderen haben ihren aktiv–bewußten „Wafd el Masri“, das „Komitee von Ägypten“ – und man fühlt es an allen Straßenecken, daß dies in Wirklichkeit die einzige ägyptische Partei ist, daß in ihren aufrührerischen Manifesten wirklich das Volk schreit ... nach Freiheit, nach Aufhebung des Kriegszustandes, in dem England seit neun Jahren das Land gefangen hält ... die Ägypter aber rufen glühend und nie ermüdend nach Verfassung und frei gewählter Nationalversammlung, nach ihrem „alten Mann“ Zaghlul Pascha ... Aber Zaghlul Pascha, der den „Wafd“ begründet hat und den sie „Führer der Nation“ nennen, ist weit weg: in Gibraltar, vom High Commissioner Viscount Allenby verbannt und von englischen Gendarmen überwacht, gleich vielen anderen... Jetzt rufen die Zeitungsverkäufer auf der Straße: „Das Direktorium des Wafd auf Befehl des Militärgouverneurs verhaftet“. Es ist wegen der Bombenattentate ... Aber morgen oder übermorgen wird ein neues Direktorium da sein, die Lücken füllen sich immer wieder, der Haß wächst, die Unermüdlichkeit bleibt die gleiche, und als sichtbare Linie der Ereignisse: seit 1921 mehr als zwanzig Attentate gegen englische und „konstitutionell–liberale“ (englandfreundliche) Persönlichkeiten. Die Täter werden trotz der gewaltigen Prämien nie entdeckt, weil sie in der Masse des gleichgesinnten Volkes verschwinden ... sagen die einen. (Weil es agents provocateurs sind ... flüstern die anderen.)
Auch die Engländer haben es nicht leicht ... nein, sie haben es gar nicht leicht. Sie wissen, daß England nicht unterliegen darf – wenn der Gegner noch außerdem eine neu auftauchende Figur im Spiel ist. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß England so etwas wie eine tragische und folgerichtige Mission zu erfüllen hat, die bisher durch ihre Konsequenz ihre Moralität bewies; erst wenn die Konsequenz durchbrochen wird und der politische Instinkt ins Schwanken gerät, wird die Geschichte hier eine Umwertung vornehmen.
19. März
Die ägyptischen Araber: wie sie lachen! Wie heiter sie sind, wie sie mit schwingenden Schritten in ihren eleganten, hemdartigen „Galabijen“ in weiß, blau, violett, braun über die Straßen dieser Stadt gehen, leichtsinnig, leichtfertig ... so daß man geneigt wäre, zu glauben alle politischen Krisen würden hier im Grunde nur relativ wichtig genommen, in einer heftigen, explosiven Erregung, die aber jederzeit bereit ist, ohne Übergang dem vollendetsten Gleichmut Platz zu machen, „als ob nichts passiert wäre“. Doch glaube ich, daß unsere Neigung, diese Attitude der Araber so zu sehen, mit jener anderen Neigung identisch ist; die „Tiefe“ zu überschätzen – nur aus dem einzigen Grunde, weil unsere eigene „Oberfläche“ häßlich ist und wir vor ihrem Anblick Angst haben. Die Bevorzugung der „Tiefe“ auf Kosten der „Oberfläche“ hat eine seelische Spaltung und Schichtung zur Voraussetzung, die den Arabern fremd ist: kann sie auf diese Menschen Anwendung finden? Weil ihr Inneres reibungslos in ihre Geste fließt – sind sie oberflächlich. Mit dem Recht, es zu sein. Und das Wunderbare ist, daß hier Wesentliches wirklich und nicht nur relativ geschieht, aber es vollzieht sich lautlos und wie von ungefähr. Nicht unterirdisch, sondern in alle Adern des Augenblicks verstreut, so daß alle Pointen gleichsam nur Begleiterscheinungen sind ... und alle politischen Manifeste, Zeitungspolemiken, Aufrufe (ohne deshalb vielleicht an Wahrheit einzubüßen) nur den obersten Schaum des Ereignisses berühren. Und doch wiederum auch seinen innersten Kern berühren.
22. März
An einem Nachmittag geht man die Mousky–Straße hinunter. Sie ist das einheimische Geschäftszentrum, brodelnd und lebendig, voll und üppig. Man tut keinen Schritt hier, ohne an das Dasein der tausend anderen zu stoßen, aber die Reibung ist ohne Härte, die Hast ohne Gier, den anderen zu übereilen.
Wenn man weiter geht, an den unzähligen lärmvollen Läden vorbei, zwischen Wagen, Autos, Karren und Lastträgern hindurch, bekommt die Straße langsam ein anderes Gesicht: sie führt nach Afrika hinein, wird stiller und wilder, dämmriger, schmutziger. Abgekratzte Häuserfassaden mit unerklärlichen mattdüsteren Farbflecken – rot, grünlich, gelb –, gleichsam abgetragene Farben, vergessenen Ursprungs und doch seltsam lebendig. Schwarze Türlöcher führen in das Innere hinein, eine leidenschaftliche, abgenutzte und zugleich spannungsvolle Atmosphäre liegt in den unsichtbaren Räumen und ragt zuweilen als ein märchenhaft zerfetztes Möbelstück – Sofa, Bank oder Bett – sichtbar auf die Straße heraus. Von manchen Fenstern hängen verblichene und zerschlissene Teppiche herunter.
Auch die Menschen sind hier absonderlich, gleichsam wilder und bunter als die in den inneren Stadtteilen; sie tragen dieselbe Kleidung, sprechen das gleiche, breitgedehnte ägyptische Arabisch wie jene anderen – und doch klingt die Sprache und zeigt sich das Bild hier wie aus einem fernen Land. Es ist eine Luft ohne Widerklang; ein stumpfes Braungrau auch in den leuchtendsten Farben. Macht es die Dämmerung? Ich weiß es nicht. Ich bin selbst leise erregt inmitten der wunderlichen Dinge.
Plötzlich hört die Straße wie mit einem Messer abgeschnitten auf, und was kurz vorhin noch wie ein sehr fernes Gebirge erschien, erweist sich jetzt als eine langgestreckte Hügelkette, im Durchschnitt kaum dreißig Meter hoch, kahl, grau, aber von einem trostlosen, namenlosen Grau, das ohne Nuance bis an die letzten Ränder des Gesichtskreises läuft, gewellt, tot ... grau. Es sind die „Schuttberge“, jahrhundertelalte Schichten über Schichten von Schutt und Staub. In diese Berge mündet die lange Straße, wie durch eine hindernde Gewalt jäh und plötzlich zum Stehen gebracht. Und wenn man weiter geht, an einem lärmenden Karussell und einer Zirkusbude vorbei, vor deren Eingang ein schmalgliedriger Knabe einem Zuschauerkreis von Kindern und Herumlungerern zu den schwermütigen und monotonen Klängen eines Dudelsacks einen obszönen Bauchtanz vortanzt, indem er die Bewegungen ekstatisch erregter Frauen langsam und genießerisch nachahmt (... er ist von herrlicher Anmut und ein Künstler), dann knirscht der tote Staubsand unter den Füßen und ein Pfad führt quer in die Schuttberge hinein und durch sie hindurch in eine andere Stadt, die sich hier auftut: Kairos alte Gräberstadt Afifi. Straßen, Häuser, Moscheen, Kapellen – alles wie in einer wirklichen Stadt; aber diese Bauten sind nur Zutaten zu den schmucklosen Gräbern hinter eisernen und hölzernen Gitterstäben: Klagehäuser, in denen sich an den Todestagen die Hinterbliebenen der reichen Toten versammeln. Und Straße über Straße dasselbe Bild, ein tonloses gelbliches Grau, still, eine große Stadt. Dann aber: die Kalifengräber. Burgen mit Zinnen und gedrehten Säulchen, hohe Kuppelmoscheen – in zartester Stukkatur der ganze Reichtum altarabischer Baukunst –, Säulenportale, Stalaktitenportale, Minâres mit durchbrochenen Galerien, ornamentale Reliefs an den Mauern, aber alles ohne Farbe, lehmgrau, staubig, zerbröckelnd – nur wie eine sorgsame Andeutung des Lebens.
25. März
Ich fuhr gestern einige Stunden ins Land hinein. Die Bahn – dritte Klasse – ist in Ägypten außerordentlich bunt besucht und deshalb repräsentativ. Städter in farbigen Kleidern und hellen Tüchern um den „Tarbusch“; ernstere Fellachen, etwas verschlossenere Gesichter, zerfurcht, verarbeitet, aber nicht weniger wach und bereit als die anderen (einer war da mit Augen wie aus Stein und einer harten, vollen Cäsarenstimme; wenn er durchs Wagenfenster um ein paar Piaster mit einem Obsthändler feilschte, konnte man dieser Stimme einen ganzen Traum von Zuverlässigkeit entgegenbringen). Während die Männer laut lachen und durcheinandersprechen, drücken sich die Frauen in ihren langen schwarzen Gewändern, Tüllstoffen und Schleiern in die Wagenecken – sie sind unbeteiligt und schauen einen mit ruhigen, prüfenden Augen über den Schleier hinweg an. Blinde Sänger singen Balladen in langgezogenen, nasalen Lauten und bleiben nie ohne Almosen. Obstverkäufer laufen schreiend mit ihren Körben stundenlang durch die Waggons. Geräusch von Nüsseknacken; Aufleuchten von herrlichen Tiergebissen. Jemand liest laut und begeistert irgendetwas aus einer Zeitung vor. Bettler mit furchtbaren Verstümmelungen, ohne Arm oder Bein, mit fehlenden Nasen und abgesengten Gesichtern steigen manchmal in den Zug, verkünden laut und eintönig ihr Unglück – nicht flehend oder jammernd, wie bei uns im Westen –, schreiten langsam durch den Wandelgang und in die anderen Waggons...
Ich ging über die geraden , ebenen Felder, an den Nilkanälen entlang, bis die Dämmerung anbrach. Im hohen Wiesengras wälzten sich schwarze Wasserbüffel mit langen, schmalen Elchschädeln und mächtigen Hörnern. Sperber; weiter Flügelschlag und lautloser Bogenflug über der niedrigen, abendlichen Ebene; einige hockten reglos auf den Pfählen, die hie und da die Feldgrenzen andeuten, oder auf einem einsamen dunkelgrünen Baum. Ein Kamel, an den wagrechten Arm eines Schöpfbrunnens gespannt, drehte sich im unendlichen Kreis... In tiefer Stille, die nur manchmal Rufe von Schiffern unterbrachen, wartete eine lange Reihe von Booten, mit Getreide und Heu beladen, auf die Öffnung der Brücke, die ihnen die Durchfahrt sperrte. Als die Brücke sich langsam hob, zogen sie die farbigen Segel empor – die Masten waren wie Ruten gebogen – und schwärmten in leiser Fahrt, in langgestreckter Linie wie riesige Vögel hinaus, groß und ruhig.
26. März
Ein Menschentypus, der um so mehr deprimierend ist, als er den Europäern, die mit ihm hauptsächlich in Berührung kommen, Veranlassung gibt, über die Araber die Achsel zu zucken; es sind die halbgebildeten Städter, die „Effendis“. Auch in ihnen steckt noch ein gutes Teil des flüssig–warmen arabischen Wesens, aber sie sind anders geartet als das breite Volk, materieller und schon von der Unmittelbarkeit des Lebens entfernt. Sie bilden fast eine Rasse für sich, haben sogar ein ausgesprochen gemeinsames Körperbild: mittelgroß, eher klein; gelbliche Haut, meist feiste Gesichter mit kurzen Nasen und dicken Lippen; fast immer zur Fettleibigkeit neigend und zur Kurzsichtigkeit (dann aber haben sie runde vorstehende Augen). Jemand erzählte mir, daß die echten „Effendis“, d.h. Herren, also vor allem die reichen Gutsbesitzer, in den vergangenen Jahrhunderten sehr oft Ehen mit ihren nubischen Sklavinnen eingingen; daher rühre wohl die rassenmäßige Minderwertigkeit ihrer Nachkommen. – So wird es wohl auch sein. Weil sie nicht mehr die Wurzelruhe der übrigen Araber besitzen, wollen diese Menschen es um jeden Preis den „Europäern“ nachmachen; das europäische Element aber (ich meine die „hiesigen“) stellt wohl das minderwertigste der Erzeugnisse Europas dar: die Männer, Abenteurer des Profits, aber ohne Schwung – und das Abenteuer immer von vornherein auf Kosten der anderen sichern; die Frauen – orientalisierte Puppen. Und das Ganze mit Kulturansprüchen. Gefräßig.
27. März
Ein Traum von heute nacht:
Ich saß auf einer Steinterrasse, die inmitten eines Gewirrs von Brücken und Schleusen weit in den Nil vorsprang; der Nil aber war schmäler als sonst, in steinerne Dämme gebannt, und sein Wasser, grau wie Stahl, erinnerte an starke Tiere, die auch in Ketten noch ihre Kraft erkennen lassen. Vor mir, hart am anderen Ufer, die Nebelsilhouette eines riesigen Gebäudeblocks mit Kuppeln und Minaretten. Dann zerfloß der Neben und der Bau erschien noch gewaltiger als vorhin, über alle Maßen gewaltig, mit tausend blinkenden Fenstern in einem fahlen und zugleich blendenden Sonnenlicht (der Himmel aber war grau und ohne Sonne); dieses Licht, diese bleiche Erscheinung durchdrang alles wie die Ausstrahlung eines flüssigen Metalls und ließ die Kanten und Ränder aller Dinge zart aufschimmern. Ich begriff – und es war wie ein aufdämmerndes Entsetzen –, daß dieser Steinbau, der in seinem Umriß den Kalifengräber und in seiner Größe und Lebendigkeit amerikanischen Wolkenkratzern glich, Kairo war, und daß hier der alte Name „Pforte des Ostens“ Wahrheit wurde ... Es war wie aufdämmerndes Entsetzen ohne Angst... denn ich sah eine steinerne Riesenpforte, ein offenes Tor auf freiem Feld, und erahnte dahinter ein weites Reich lebendiger Kräfte – Gesichter, Rufe, Bewegungen – fremde und dunkle Verantwortungen, die sich wie eine Welle über dem zusammenschließen, der durch das Tor hinüberschreitet...
Ich wachte auf.
28. März
Eine schmalflügelige Dahabije segelt langsam den Nil hinauf, ein Segel am Bug und ein Segel am Heck. Die Palmenallee der Insel (Gesireh) zeichnet sich in graublauen Silhouetten auf einem Himmel ab, der dunstig und sonnenlos ist wie die Septembertage in Europa. Ein Fischerboot am Ufer mit Stangen und Netzen, eine schwarzgekleidete Frau walkt Wäsche im Uferschlamm, silberne Fußspangen um die Knöchel; und das Gesehene schließt sich in einen Kreis von vollkommener Rundheit.
Irgendwo, hinter sich, ahnt man die Stadt. Häuser, die in geraden luftigen Linien aufragen, oder jene anderen, die eng aneinander gedrückt dämmrige Gassen einschließen. Hier die Levante, tausendtönig und tausendgerüchig – dort in den europäischen Vierteln eine saloppe, etwas verstaubte Eleganz; und dann ein Meer von flachen Dächern in elefantengrauer Farbe und mit zerbrechlichen Wäschegerüsten: die arabischen Quartiere. Riesige Stadt, abwartende Stadt.
Kâhira (Kairo) heißt auf arabisch: „Die Siegreiche“ ... (Nur vor so und so vielen Jahrhunderten...?)
* * *
Meine Zeit ist kurz bemessen. Ich verlasse bald Ägypten – und denke mir: das sogenannte Problem des nahen Ostens ist ein einfaches Entwicklungsproblem und verdankt alles Beunruhigende und Qualvolle dem Westen. Wir haben uns lang genug daran gewöhnt, Geschichte grob zu materialisieren und politische Verwicklungen des Orients im Aspekt der „Interessensphären“ westlicher Mächte zu betrachten. Die Tatsache der Interessensphären und ihrer Konflikte soll nicht bestritten werden und gehört in einen anderen Abschnitt unserer kapitalistischen Zeitgeschichte. Aber vor allem, glaube ich, ist der nahe Orient, obwohl durchaus europafremd, zu einer Art „locus minoris resistentiae“ unserer Welthalbkugel gemacht worden. Es ist wahr: er ist heute überempfindlich – infolge seiner erwachenden und deshalb heftigen und allzu ungleichen Entwicklung –, aber die Krankheiten, an denen er angeblich leidet, sind ja nichts anderes als Krankheiten (oder schon mehr: Suchen nach Gesundung) unserer allgemeinsamen Welt! Krankheiten, die – bei uns selbst, im Westen, noch bis vor kurzen durch Widerstände und „Kulturhemmungen“ aller Art gedämpft – an diesen in sich schon erregten, naiven, sicherungslosen Organismen des Ostens manifest werden und ausbrechen können. Der Westen aber hat im Laufe der Zeit ein raffiniert–einfaches System herausgebildet, um diesen „manifesten“ Zustand zu einem dauernden und vorteilhaften zu machen: nämlich die Interventionspolitik, die neben dem „berechtigten Schutz der Interessensphären“ angeblich die normale Entwicklung des Orients sichern soll. Nun aber: jede direkte (und selbst eine ehrliche) Unterstützung einer Entwicklung von außen her ist in Wirklichkeit Störung der Entwicklung; folglich wird jedes Eingreifen des Westens, jede „Intervention“ naturgemäß nur negativ wirken; sie wird nur neue Krankheitserreger bringen (d.h. eigene hier abstoßen) und so ein vollkommenes Gesunden des „locus minoris resistentiae“ aus eigener Kraft – bewußt zu verhindern suchen –, in erster Linie mit dem einen Zweck: latente Krankheiten des Westens durch ihr lokales Auftauchen im Nahen Osten ... zu verschleiern.
Und wie sich heute alle Leidenskrämpfe des Abendlandes um die zwei Gegenpole des Sittlich–Anständigen und des Augenblicklich–Opportunen gruppieren (von denen das erstere in mehreren, das letztere aber in zahllosen Formen auftritt): – so scheint es mir, daß die ganze europäische Orientpolitik – auch abgesehen vom selbstverständlichen Vorwurf des „Imperialismus“ – sich um etwas verflucht Unanständiges dreht. Um sich nicht offen mit eigenem Leiden auseinandersetzen zu müssen, wird dasselbe auf einen Überrumpelten projiziert und dann aus der „Zivilisation“ heraus ... bekämpft. Eine Don-Quichotterie – aber keine adlig verrückte; ein Kampf mit Windmühlen (wobei man zwar nicht sich selbst, wohl aber die anderen glauben machen möchte, es wären gefährliche Riesen ...).
29. März
Durch das arabische Volk in Ägypten geht es jetzt wie die Welle eines expansiven Aufschluchzenwollens aus dem Innersten heraus. Nicht etwa in Verzweiflung oder Erbitterung; eher ist es die schmerzliche Begeisterung, sich dem Sinn der eigenen Kraft genähert zu haben und nun von ihr getrieben zu werden. Wenn ein Fremder genügend hingebende Nerven hat, so kann er das Phänomen mit seinem ganzen Körper empfinden. Vielleicht, wenn einer den Rhythmus dieses Aufschluchzens – ich kann es nicht anders nennen – zu greifen vermöchte, würde sich ihm das verborgene seelische Gesetz aller Massenbewegung offenbaren. Die Araber selbst ahnen dieses Letzte sicher nicht einmal – sie sind zu optimistisch, jeder einzelne für sich. Aber schließlich liegt in dem, was sie tun, das animalische Wissen: alle Kraft auf einer einzigen Linie und aus einem einzigen Punkt heraus – die einfachen Dinge sind es, die Geschichte machen.
30. März
Immer wieder höre ich von ägyptischen Politikern bitterste Äußerungen über die zweideutige englische Politik, die Freiheiten verspreche und Einschnürungen vornehme. Unehrlichkeit? Trotz allem glaube ich, daß man, um die Gegenwart zu verstehen, die These von Englands „Unehrlichkeit“ wird fallen lassen müssen. In dreihundertjähriger Subtilisierung hat dieser Staat in seiner Außenpolitik eine Stufe erreicht, die man als Identität seiner tatsächlichen Politik mit dem politischen Willen seines Volkes bezeichnen möchte. Die vorhandenen Differenzen, auch zwischen den extremsten englischen Parteien, scheinen rein formaler, methodischer Natur zu sein – in Wirklichkeit arbeiten alle zusammen, ohne Stockung und Abweichung, an der Vollendung des angelsächsischen Wesens. Eine solche Übereinstimmung kann nur die Umschreibung einer tieferen Ehrlichkeit sein; aber andererseits bedeutet die Reibungslosigkeit zwischen Wille und der Tatsache den Untergang der Produktivität – denn diese ist gerade an die Sehnsucht nach Überwindung einer bestehenden Spannung gebunden: – und da könnte man fast wider Willen zu der primitiven Terminologie von der „Unehrlichkeit“ zurückkehren –, denn wenn Aktivität nicht mit Produktivität zusammengeht – wo bleibt das Moralische?
Port Saïd, 2. April.
Sie ist wie eine gedehnte Melodie, diese lange Linie des Suez–Kanals bei Nacht. Das Mondlicht legt die Wasserstraße wie eine wirkliche, traumhaft breite Straße, wie ein dunkles Metallband hin. Die satte Erde des Niltals hat überraschend schnell Dünenketten Platz gemacht, die fahl und überaus wach – wie kaum sonst eine nächtliche Landschaft – auf beiden Seiten den Kanal einschließen. Aus der horchenden Ruhe hebt sich manchmal das Gerippe von Baggermaschinen dunkel in die Luft. Oder ein Kamelreiter huscht vorbei, vorbei – kaum gesehen und von der Nacht verschluckt.
Der Suez–Kanal spricht: Ich will nichts von der Politik dreier Kontinente wissen, mein Dasein ist groß und einfach – ich gehe von den Bitterseen am Roten Meer zum Mittelmeer – mitten durch eine Wüste –– damit der Indische Ozean an die Hafendämme Europas schlägt.
Jerusalem, 5. April.
Auf einmal bin ich wieder in Jerusalem. Nach der ägyptischen Wärme ist hier die Luft herb und von stürmischen Winden getragen; dem Wiederkehrenden wird fühlbar, daß dieses Land von großer Strenge ist, und in jeder Hinsicht geschaffen, den Menschen das Leben nicht leichter, sondern schwerer zu machen. Gleich am Anfang schon, gestern: an der ungastliche Reede von Jaffa hatte eine schwere Brandung das Ausbooten unmöglich gemacht und das Schiff mußte nach Haifa fahren, um seine Passagiere an Land zu setzen.
In Galiläa ist es Frühling. Das Auto flog vier Stunden lang durch vielformige Landschaft, die nach dem Winterregen in der sparsamen Zeit ihrer Blüte stand. Zuerst durch grüne Taleinschnitte – an den Hängen weidete Vieh ohne Hüter, aus hohen Blumenfeldern tauchten zottige Schafsrücken, braune, weiße und schwarze Tiere liefen ängstlich, mit kurzen Schrittchen über den Weg; es ist ein horazisches Land, lieblich und süß, wie man wohl manchmal Felder und Hügel im Frühling träumt. Dann, als der Nachmittag fortschritt, stiegen wir in die Berge von Samaria. der Wind, der ins Gesicht schlug, wurde kälter und schneidender. Eine verwunderte Frage tauchte auf: Palästina – subtropisches Klima? Aber die kühlen Berge von Mittel- und Südpalästina stehen über den altgewohnten Begriffen aus der Schule ... Und so wie diese Begriffe an sich nicht unklar sind, wohl aber unsere lässige Auffassung von ihnen, so ist auch unsere Einstellung zum Osten träge und ohne Verantwortung; bis zu dem Augenblick, wo wir vor den Kopf gestoßen werden, duseln wir in unserem Halbwissen dahin ... Ein kurzer Aufenthalt in Nablus, der arabischen Hochburg zwischen Gärten und allseits rauschenden Quellen; hier führen die hundertfünfzig letzten Samaritaner ihr exklusives, verwelkendes Leben hin, im Frieden mit den Arabern und nur der Pflege ihrer „rechten Lehre“ hingegeben. – Darauf in die eiskalte Nacht des Hochlands von Judäa. Schatten von märchenhaft verrenkten und gestaltenreichen Olivenbäumen gleiten an den Wegrändern vorbei, sekundenlang vom grellen Licht der Autolampen in eine dramatische Wirklichkeit hineingerissen.
Die arabischen Chauffeure sind das Kühnste, was der Automobilismus hervorgebracht hat. Sie sausen mit telepathischer Sicherheit die dunklen Serpentinen hinauf und hinunter, mit der Geschwindigkeit eines Expreßzuges biegen sie um jähe Kurven über Abgründen, die auch dem langsamen Eselreiter bedenklich erscheinen – und es passiert nie etwas. Ihre Hände am Volant scheinen vorausgreifend sich der Straße anzupassen und alle Unebenheiten des Terrains und alle Krümmungen so zu nehmen, wie man atmet, frei und unbekümmert, nur dem Rausch des Fliegens hingegeben: sie sind eben geborene Fahrer, wie ihre Ururahnen geborene Reiter in der Wüste waren. (Die Beduinen hängen ihren Pferden Amulettketten aus blauem Stein um den Hals, um sie vor Unfällen und bösem Blick zu schützen; dieselben Ketten kann man am Kühler jedes arabischen Autos sehen.)
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Am späten Abend traf ich in Jerusalem ein – Jerusalem aber steht im Zeichen eines dreifachen Festes: das christliche Ostern und das jüdische Passahfest sind auf allen Straßen spürbar und werden noch übertroffen von den Sensationen des arabischen Festes Nebi Musa (Prophet Mose). Es heißt, daß der Ursprung dieses ekstatischen, für die Araber in seiner Bewegtheit so bezeichnenden Festes ein politischer war und nicht mit den religiösen Institutionen des Islam zu tun hatte. Der Sultan Salâh–ed–Din soll es in der Zeit der Kreuzzüge eingeführt haben, um der alljährlichen Ansammlung der Christen während der Osterwoche in Jerusalem ein mohammedanisches Gegengewicht zu setzen. Später geriet das politische Moment ins Vergessen – aber es erhielt sich im Untergrund der religiösen Begeisterung und gibt noch heute der Feier einen Schimmer nationaler Demonstration. An diesen sechs Festtagen strömen die Araber nach Jerusalem – aus Nablus, Hebron, dem Jordantal und aus der Wüste im Süden. In der Stadt hallt und flutet es. Fanatische Tanzprozessionen in tausend Blumenfarben. Weiße und bunte Keffijen (Kopftücher), orangefarbene Turbane der Landbevölkerung und weiße Turbane der Geistlichen, braune und braun–weiß gestreifte Beduinenmäntel; städtische Araber, Fellachen und Beduinen sind eins im rhythmischen Wiegen zu Ehre Gottes, die primitiven Instrumente stacheln auf, treiben die Verzückung schrill in die Höhe – „es gibt keinen Gott außer Gott“ –, Derwische tanzen zum Lärm der Pfeifen, Pauken und Messingbecken, Schaum vor dem Mund, die Augen in eine unfaßbare Unendlichkeit verdreht – „und Muhammed ist der Gesandte Gottes“ –, immer wieder dieses eine höchste Bekenntnis: „Kein Gott außer Gott“. Schwerttänze auf dem welligen Pflaster der Straßen der Altstadt. Der Mufti reitet auf einem weißen Pferd, von Fahnen umgeben, den Prozessionen voran, die Feiernden gehen vorwärts und rückwärts, tanzend und die Glaubensregel in alle vier Weltrichtungen ausrufend. Aus den halbdunklen Gassen ertönt von Zeit zu Zeit grell langgezogenes Frauentrillern, minutenlang.
Es wird noch ein paar Tage dauern, dann zerstreuen sich die Schwärme wieder ins Land hinein. Die Schwadronen der Polizei werden wieder ihre Pferde absatteln können, ohne Judenmassakers zu befürchten. Die englischen Panzerautos werden wieder ihren Dämmerschlaf in den Remisen antreten.
7. April
Immer sind hier die starken Gegensätze und Spannungen von Mensch zu Mensch spürbar. Als beherrschende Stimmung der Straße gilt ein unsichtbares, in der Luft liegendes Abwägen: Jude oder Araber. Alles Geschehen, jede Erwägung, welche über mehr als zehn Menschen hinausgreift, muß sich mit diesem gereizten Haß auseinandersetzen, dessen Schicksal es ist, immer heute größer zu sein als gestern. Balfour–Deklaration und nochmals Balfour–Deklaration: sie ist – allerdings in verschiedenem Sinne – die Losung in beiden Lagern. Die Zionisten stützen sich auf dieses offizielle Versprechen einer jüdischen Heimstätte in Palästina – und „wollen die Araber nicht unterdrücken“. Die Araber wollen davon nichts wissen und erklären ihrerseits, sie „wollten die Juden nicht unterdrücken“ – in einem freien Palästina, dessen Regierung den Bevölkerungsziffern gemäß (rund 650 000 Araber und 82 000 Juden) zusammengesetzt werden müßte.
8. April
Setz dich auf die breite Steinbrüstung unterhalb der Davidsburg, wo die Lastträger, die „Hamâls“, herumhocken und herumliegen, essen oder auf Arbeit warten; sieh dir den Platz vor dem Jaffator an; hier ist der Mittelpunkt des Verkehrs, hier ist die Grenze zwischen Altstadt und Neustadt. Und hier reiben sie sich aneinander, stoßen aneinander, Araber und Juden, alle möglichen Spielarten von beiden: eingeborene Juden mit Tarbusch und weitem, farbigem Mantel, um Gesichtsschnitt oft von den Arabern kaum zu unterscheiden; Juden aus Polen, Rußland, aus Persien und Buchara, und in weißen Abbayen die stolzen Maghreb–Juden aus Marokko und Tunis; daneben die trachtenlosen „städtischen“ Juden aus allen Winkeln Europas. Dann die Araber – Städter, Fellachen, Beduinen; an ihnen ist der gradweise Unterschied der Rassenreinheit klar zu ersehen: als die reinen Kinder Arabiens kann man wohl nur die Beduinen ansprechen; klarer semitischer Typus, scharfe, vorspringende Gesichtszüge, ausnahmslos hagere Gestalten (in großen Mänteln, die an den Ellenbogen weit gebauscht sind – da man beim Gehen gerne die Arme in die Hüften stemmt – und zum Ausweichen zwingen). In den Städtern ist das meiste fremde (syrische) Blut; aber gerade in ihnen ist das arabische Wesen am stärksten fühlbar: die Pflanze war selbstherrlich, jetzt und vor tausend Jahren, und auf fremdem Boden gepflanzt, setzte sie noch intensiver als je ihre Eigenart durch.
„Jude oder Araber“. Sie sind hier verrannt in ihren unduldsamen Haß, der sie nicht weiter bringt. Denn sie haben nichts miteinander zu tun; es ist Konkurrenzhaß und nicht Auflehnung eines Schwächeren gegenüber einem Stärkeren und nicht Selbstbehauptung eines Stärkeren gegenüber einem Schwächeren. Und da noch außerdem die vielen schwarzen Priesterröcke durch die Straßen wandeln und die vielen Glocken läuten und eine andere Distanz betonen, gibt es wenig atembare Luft in Jerusalem. Drei Stimmen kreuzen sich immer und scheinen einander zu sagen: Nicht du sollst hier sein.
Eine Ausnahme bilden noch die Basare; in ihnen ist kaum Platz für Hader; in ihrer Emsigkeit konzentriert sich die tiefe Lebenslust des Orients, die nicht anderes will als Nehmen und Empfangen ohne Grenzen.
Ein höchst merkwürdiges Eigenwesen ist Jerusalem – aber keine Stadt, die man, von außen kommend, lieben möchte.
10. April
Palästina befindet sich im Zustand absoluter Unentschiedenheit – was ja nicht viel heißen müßte in unserer Zeit, wo die halbe Welt in diesem Zustand lebt: aber hier fällt er ganz besonders auf und drückt jedem Geschehnis, jeder Arbeit sein entwertendes Zeichen auf. Vor allem wird davon die aktivere Schicht umfaßt, die Zionisten. Ihre Erwartungen, hochgespannt in der Richtung eines jüdischen Freistaates – „jüdisch wie England englisch und Amerika amerikanisch“ – haben durch die allmähliche Entwicklung der Verhältnisse eine bedeutende Dämpfung erfahren. „Kein Geld, kein Geld“, das ist die täglich Litanei eines kapitalistischen Landes ohne Kapital. Es herrscht eine tiefe, jede Bestrebung ins Provisorium umkehrende Unsicherheit, man ist irgendwie „gekränkt“ – hier ist man immer gekränkt –, erwartet Hilfe von irgendeiner Seite, Kapitalien, die, wenn sie kämen, das Bild ganz anders gestalten könnten. Da man ja nun einmal mit der Unterstützung der übrigen Welt hatte beginnen müssen, wird immer der Schwerpunkt (und natürlich auch die Verantwortung) alles dessen, was im jüdischen Palästina geschieht, auf die Außenwelt geschoben. Ich glaube, daß in dieser Unmoral alles Krankhafte der zionistischen Politik seinen Ausdruck findet, eben das, was sich als „unbehaglicher“ und atembeklemmender Konflikt offenbart. –
Die arabische Gegenbewegung ist ganz anderer Art. Aus den Notwendigkeiten der Gegenwart geboren, will und kann sich nicht durch Schaffung von „Kulturwerten“ mit der zionistischen Arbeit konkurrieren; heute – und vielleicht lange noch – sehr primitiv; und darum auch ehrlich: denn es soll noch nichts „realisiert“ werden, es ist ein einfaches Krafterwachen in Abwehr von Entwicklungshindernissen; und darum auch nie reaktionär und immer freiheitlich – in tiefem Gegensatz zu europäischem Nationalismus. Der Nationalismus des Orients ist revolutionär, weil er um noch unentschiedene Werte der Zukunft kämpft und sich nicht auf Symbole der Vergangenheit beruft.
In Palästina tritt die arabische Bewegung in zweifacher Form auf: lokal, als Gegenbewegung gegen den Zionismus, und darüber hinaus als ein Teil der groß-arabischen Bewegung, die in ihrer praktischen Bedeutung etwa acht Jahre alt ist. Die kluge und voraussehende Politik Englands wußte während des Weltkrieges die vorhandenen Keime in ihrem Wachstum zu unterstützen und aus ihnen gewaltigen Nutzen zu ziehen. Wie in allen englischen Unternehmungen auf weite Sicht, begann es auch hier mit Persönlichkeitsbeziehungen: es begann damit, daß das Foreign Office im Jahre 1915 durch Vermittelung des damaligen High Commissioner in Ägypten, Sir McMahon, mit Hussein, dem Groß–Scherifen (Statthalter des Kalifen) in Mekka, brieflich Fühlung nahm. Die Unzufriedenheit der arabischen Länder mit der türkischen Herrschaft war ja kein Geheimnis; und Hussein selbst, der seine Abstammung in gerader Linie vom Propheten ableitet (er gehört zur Familie der „Haschemiten“) und unter den Arabern Nordwestarabiens, Palästinas und Syriens sehr bedeutenden Einfluß besitzt, träumt von der Losreißung der einzelnen Länder vom ottomanischen Reich und der Schaffung eines einheitlichen, nationalen arabischen Staates. In diesem historischen, noch nicht restlos bekannten Briefwechsel gibt das Foreign Office das Versprechen, im Falle einer arabischen Erhebung gegen die Türken ein unabhängiges Reich vom Persischen Golf bis zum Roten und Mittelländischen Meer zu errichten, und zwar mit Einschluß Palästinas und Mesopotamiens. Der eigentliche Urheber des Planes war Lord Kitchener, seine eifrigste Verfechterin die damals starke englische Militärpartei. Hussein wurde vorläufig zum König von Hedschas ausgerufen, eine gewaltige Propaganda ging von Mekka nach den arabischen Stämmen aus. Eine Schwierigkeit zeigt sich, als der unabhängige Emir von Nedschd, Ibn Saud, sich in in scharfen Gegensatz zu Hussein stellte und nichts von dessen „Oberkönigtum“ über ein arabisches Einheitsreich wissen sollte. Und hier leisteten die Engländer ein diplomatisches Meisterstück: der ganze Problemkreis „Großarabien“ unter Mekkas Hegemonie wurde Sache des Foreign Office (mit Unterstützung der Militärpartei), während das Colonial Office (scheinbar ohne Fühlungnahme mit dem Foreign Office) Hand in Hand mit dem Emir von Nedschd zu arbeiten begann. Diese arabische Zweiheit bewies – und das war in jenem Zeitpunkt für die ganze Idee verhängnisvoll –, daß der Gedanke des Einheitsstaates verfrüht, vielleicht auch unmöglich war; und dies gab sowohl Frankreich wie England den Vorwand, auch wirklich zusammenstrebende Länder auseinanderzureißen. So gelang es den Franzosen (die von vornherein der arabischen Einigung feindselig gegenüberstanden), in Form eines „Mandats“ das Gebiet des Libanon zugesprochen zu bekommen, und dem Libanon folgte 1920, durch Kampf und Intrigen erworben, das übrige Syrien und der Haurân. Und im selben Jahre wurde englischerseits durch die Balfour–Deklaration das alte Versprechen an die Araber gebrochen.
12. April
Es fällt einem täglich auf: Während die arabische Opposition gegen Zionismus und englisches Mandat infolge ihrer organischen Einheitlichkeit eine sehr hohe Schlagfertigkeit und Gemessenheit besitzt und immer alles erreicht, was im Augenblick zu erreichen ist und was England ohne Verletzung seines Prestiges gewähren kann, haben die Zionisten, also die regierungstreue Partei, gar keine nennenswerte politische Macht. Wirtschaftlich haben sie versagt, und die Nichterfüllung ihrer diesbezüglichen Versprechungen gibt der britischen Administration erwünschte Gelegenheit, eine prekäre Frage vorlegen zu können: „Wo sind die Kapitalien, die eure Volksgenossen für eine jüdische Heimstätte aufzubringen versprachen?“ Die Antwort bleibt aus und die Kapitalien bleiben aus (diese letzteren wohl unter anderem aus irgendeinem Mißtrauen der jüdischen Außenwelt gegen die englisch–zionistische Politik; man erzählt sich, die amerikanischen Juden hätten keine Lust, ihrer guten Dollars für eine englische Kolonie auszugeben...) – und die Folgen? Sperrung der jüdischen Einwanderung auf ein Minimum, da für die Einwanderer keine Arbeit im Lande vorhanden ist (... und das ausländische Mißtrauen steigt, mit einem Seitenblick auf London, wieder um einen Grad).
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Es scheint mir, daß für das Nichtgelingen (man kann noch nicht sagen: Mißlingen) des zionistischen Programms tiefere Gründe verantwortlich gemacht werden müssen als seine wirtschaftliche und politische Taktik. Zur Beurteilung dieser Bewegung genügt nicht ein Für und Wider die realen wirtschaftlichen Möglichkeiten; denn in den Grundlagen des zionistischen Gedankens selbst liegt das Kranke. Aus dem großen Unglück und der großen Sehnsucht des jüdischen Volkes nichts anderes herauszuschälen als die Idee einer „Heimstätte“ – das ist das Kranke; blind vorbeizugehen an eben diesem Unglück und eben dieser Sehnsucht, ihnen Vorwände zu schaffen, ohne sich nach den letzten Ursache zu fragen – das ist ja die Krankheit des Judentums selbst! (Sie sagen allerdings: das Unglück sei eine Folge des Golus, in dem die Juden leben; die Sehnsucht richte sich auf die Aufhebung dieses Zustandes und ein eigenes freies Dasein. – Aber die Entwicklung von Völkern ist doch nicht nur eine Reihe von Zufälligkeiten; es lag doch ein Sinn im Verlust der Heimat; und solange dieser Sinn nicht erfüllt ist, ist es eben sinnlos, alten Formen ohne neuen Geist nachzustreben.)
Was ist denn das jüdische Leiden – in Wirklichkeit? Eine kurze Antwort: es ist das Leiden um den Verlust der ethischen Bindung. Wir wollen nicht übersehen, daß eine solche Bindung das erste Ziel jeder gesunden Volksentwicklung ist und überhaupt Kräfte für produktives Weitergehen freimacht: denn sie ist das Aufgaben jedes Wenn und Aber (ihr Inhalt ist reines Symbol – und ihr Wert nur von der dabei verwendeten Intensität bestimmt). In der biblischen Gottesidee hatte sich das junge Volk eine Bindung höchster Art geschaffen; die Kraft hatte Form erhalten. Es war ihnen tausendfach verboten, Götzen anzubeten, das Werk der eigenen Hände anzubeten, sich selbst anzubeten: ihr Schritt sollte rein und aktiv und unablenkbar bleiben. Das Volk war sehr einsam in diesem Zustand. Doch war in der biblischen Zeit gerade die Intoleranz gegen „Andersgläubige“ kulturschaffend, denn sie hatte zur Voraussetzung den starken Willen eines Volkes, auf dem einmal als richtig erkannten Weg weiterzugehen und aus dem eigenen Selbst Werte zu gestalten. In dem großen Glauben an das Selbst aber lag die Gefahr eines grenzenlosen Fluches: im Falle einer Abwendung von „Gott“, d.h. eines Nachlassens der ethischen Bindung, an der eigenen Kraft zu verzweifeln und sie gegen den eigenen Untergang zu richten. Denn die Kraft hatte sich in „Gott“ verschworen zu großen, wenn auch unbekannten Zielen, und mußte nun – als der Fluch wirklich eintraf – ziellos: selbstvernichtend werden. Den Juden blieb das tiefe Schuldgefühl, die eigene Bestimmung, „Gott“ – verraten zu haben; und als sie in alle vier Winde gingen, griffen sich automatisch den Begriff „Gott“ auf und klammerten sich an ihn wie an eine Form, die einem teuer wird, wenn der Inhalt verloren gegangen. Um das alte Symbol sammelte sich alle Sehnsucht des jüdischen Volks, das nach einer neuerlichen Bindung dürstete und sie nicht wiederfand. Gott war das Nächste – und zugleich das Fernste. Und aus der früheren kriegerischen, herrisch–erobernden Intoleranz wurde die hassende Intoleranz des Ghetto: die Angst, sich immer wieder von dem eigenen „rechten Glauben“ überzeugen zu müssen. So entstand auch der tragische Widerspruch im jüdischen Menschen: das Wissen von diesen Dingen und von der Gnade fern zu sein. Zwei Jahrtausende lang erhielten Sehnsucht und Angst das jüdische Volk und machten es furchtbar einsam, viel einsamer als es zuvor die Kraft tat, so daß es „den Völkern zum Ekel ward“.
Und heute –? Auch heute noch kann es für die Juden kein Wenn und Aber geben. Sie hatten ein schweres, ganz außerordentliches Schicksal, und dies weist sie auch für die Zukunft auf außerordentliche Wege hin. Es heißt: still werden in sich, Kräfte in sich sammeln – vielleicht für eine spätere Bindung – Kräfte ziellos in sich sammeln, ohne sofort „realisieren“ zu wollen. Der Zionismus aber will unmittelbar „realisieren“, den Hausbau mit dem Dach beginnen: eine Heimstätte für die Juden! Er erhebt die Kulisse zum Altar, „Palästina–Sehnsucht“ an Stelle tiefster menschlicher Sehnsüchte. Er übersieht, daß die Errichtung einer Heimstätte jeweils das Endergebnis einer Volkskraft war – und niemals ein Hospiz, eine Zuflucht vor dem Leiden –.
14. April
Ich wohne im Haus meines jüdischen Freundes, im arabischen Steinhaus am Rande der Altstadt. Von der Dachterrasse sieht man auf zehn Meter Entfernung die sogenannte „Davidsburg“, deren alte graue Mauern, steil und zum Teil verwittert, in der Stadtmauer ihre Fortsetzung finden. Es ist ein typischer arabischer Festungsbau aus dem Mittelalter, mit einem schmalen, minarettartigen Wachtturm; da aber hier, auf dem Berge Zion, Davids Burg gestanden haben soll, belassen es die Juden bei dem hochklingenden Namen. – Wenn ich mich umdrehe, kann ich die ganze Altstadt überblicken. Es ist heute einer jener letzten Regentage, mit dunstiger Luft und schwer verhängtem Himmel – aber an solchen Tagen, wenn der Regen für eine Weile aufgehört hat und die Wärme der kommenden Frühlingsluft schon zu spüren ist, tritt Jerusalem in seinen äußeren und inneren Konturen deutlicher als je hervor, mit dem scharf umgrenzten Areal der Altstadt und den vielfach gebrochenen Linien ihrer Gassen wie ein Schnitzwerk aus Stein anzusehen. Drüben am anderen Ende, aber ins einer gewaltigen Größe ganz nahe erscheinend, liegt der alte Tempelplatz – und in seiner Mitte der „Felsendom“ (Omar–Moschee), die heiligste Moschee nach der mekkanischen Kaaba. Dahinter fällt die Stadtmauer gegen das Kidron–Tal ab; jenseits des Tales steigen schon die sanften, unfruchtbaren Berge auf, deren Hänge nur mit runden Flecken – Olivenbäumen – dünn bestreut sind. Im Osten, an der Straße nach Jericho, etwas mehr Üppigkeit, dunkelgrün, mauerumhegt: der Garten Gethsemane. Er ist schräg zur Landstraße geneigt; aus seiner Mitte leuchtet unter Ölbäumen und Zypressen die russische Klosterkirche mit goldenen Zwiebelkuppeln.
15. April
Jerusalem ... Dies kann nur der Name einer jüdischen Stadt sein, obwohl sie heute keine jüdische Stadt mehr ist. Weit weg von hier, in der Sehnsucht nach Erfüllung scheint sich mir das jüdische Wesen heute auszudrücken: aber es will eine Erfüllung sein Schritt um Schritt, aus der Erkenntnis des eigenen Lebens und seiner Gesetze heraus, und nicht in konstruktiver „Aufbauarbeit“. Die Juden sehnen sich, ohne es vielleicht eindeutig zu wissen, nach derselben Wachheit und Anspruchsfülle des moralischen Gewissens, die ihnen Jesaja hineinzuschreien versuchte. Damals war es „Gott“; aber wenn es ihnen heute gelänge, in einem neuen Prinzip denselben Spannungsgehalt wiederzuerwecken: – wo gäbe es dann in Wahrheit eine Kulturtat von gleicher Weite? – Sie hatten einst eine hohe Kraft: während alle anderen Völker ihre im Mythos repräsentierte „Bindung“ auf diese oder jene Naturkräfte übertrugen, diese oder jene von den Naturkräften zu moralischen Maßstäben gewisser eigener Kräfte erhoben, leistete sich die Juden ganz allein die Idee eines alleinigen Gottes, eines Prinzips durchgreifender Verantwortung, die sich auf alle, auch die allerkleinsten eigenen Regungen gleichmäßig und ohne Unterschied bezog. Ihr ganzes früheres Leben entwickelte sich unter dem Kriterium: gottgerecht – oder nicht gottgerecht; jedes schwächende Dritte war ausgeschaltet; nicht verdrängt, sondern es existierte ganz einfach nicht, wo wie es kein Drittes zwischen Gerade und Ungerade gibt.
Wann werden die Zionisten begreifen, daß sie ein fundamentales Kulturstreben auf ein banales ableiten, daß sie Leiden umgehen, nicht aber überwinden wollen? Und daß der stärkste Repräsentant heutigen Judentums, der orthodoxe Jude aus dem östlichen Europa, in seinem Gottglauben, der nur von Gott und von nichts anderem wissen will: daß dieser Jude, weil seine Sehnsucht wenigstens in der Richtung der jüdischen Kraft und Qual liegt, noch am nächsten – wenn auch lange nicht vollkommen – den jüdischen Weg berührt?
17. April
Es regnet andauernd. Ich sitze am liebsten unten in der Küche, weil ihr Fenster auf den Hof ausgeht – und der Hof gehört einem alten Araber, der sich nur „Hadschi“ rufen läßt; er vermietet Esel zum Reiten und Lastentragen und macht auch den Hof zu einer Art Karawanserei; es werden hier Kamele abgeladen, die morgens, meist noch vor Tagesanbruch, Gemüse und Obst aus den umliegenden Dörfern in die Stadt bringen. Tagsüber liegen die großen Tierleiber mit den langen Hälsen auf der Erde, Kamel– und Eseltreiber vollführen immer irgendwelche lärmvollen Verrichtungen – wenn sie sich nicht gerade vor dem strömenden Regen in die Ställe verkriechen; tolle und abgerissene Burschen. Wenn sie miteinander beim Essen sitzen – flache Weizenbrote und etwas Käse mit Oliven – kann man ihre derbe Vornehmheit und innere Stille nicht genug genießen. – Der alte „Hadschi“ humpelt immer in irgend einer Ecke herum – er leidet an Gicht, hat ein geschwollenes Bein und geht am Stock, wartet auf schönes Wetter und schimpft in der Zwischenzeit mit seinen Enkeln, wenn sie ihm im Wege sind – heiter und selbständig wie alle arabischen Kinder. Auf dem anstoßenden Grundstück wird ein Haus gebaut – jetzt in der Regenzeit liegt es still und wartend da – und auf einem halbfertigen Mauerstück balanciert ein dreijähriger Junde und jagt die Katzen der Nachbarschaft.
In der Küche aber ist Schama. Schama ist eine Jüdin aus Yemen. Schama, diese feine magere Mädchengestalt, ist eine Frau von zweiunddreißig Jahren und hat bereits eine fünfzehnjährige Tochter. Wenn sie ihren Pflichten als Aufwärterin im Hause meines Freundes nachkommt, ist es ein schönes Erlebnis, ihren Bewegungen zuzusehen, die wie zierliche rasche Tiere über die Gegenstände huschen. die seltsame und beinahe unpersönliche Keuschheit ihres Wesens: ist sie nicht ein Rassezug aller dieser Juden aus dem südarabischen Land? Alle sind sie zierlich und feingliedrig, fast zu zart für die praktischen Härten des Daseins; alle sind sie ernst und demütig, ohne Unterwerfung; viele auf eine besondere Weise im künstlerischen Feinhandwerk begabt: ihr ganz eigentümliches Gebiet sind Ziselier– und Silberarbeiten von großer Schönheit und Zartheit – Becher, Schalen, Armbänder, Bucheinbände, deren Sorgfalt und Durcharbeitung einen zuweilen staunen macht. Und endlich ist diesen Menschen, ohne Ausnahme fast, dies unwirkliche Huschen durch die Dinge des Lebens gemeinsam.
Wenn Schama lächelt und ihre kranken Augen dabei aus ihrer Trübe aufleuchten, muß man sich eines helleren Lebens freuen.
19. April
Ich gehe in die alten Gassen und schaue mir euer Leben an. Händler in den Buden, unerbittliche Anrufer der Vorübergehenden! Es ist eine süße Sehnsucht nach Verdienen, die sich wie Erregung und Erlebnis durch euren Tag hindurchzieht und euch nicht weniger wert macht, als es die sagenhafte und hier nicht bestehende „Ruhe in Trägheit“ täte. Süße Sehnsucht? Ja, den sie entbehrt aller Angst des Erraffens. Sie ist ohne Hast. Ohne Neid. So, daß der Besitzer eines Ladens denselben der Obhut seines Nachbarn und Konkurrenten anvertraut, wenn es notwendig wird, für eine Weile fortzugehen. In der unbezweifelten Sicherheit ihres Daseins pendeln die arabischen Menschen – und suchen dieses unbezweifelte Dasein zu steigern. ... Durch Verdienen und Erwerben? Warum nicht? Diese Dinge haben in Europa ihre Verächtlichkeit erlangt, weil sie aus einer Lüge, einer Zweiheit des Seins entsprungen waren, weil in ihnen die „Seele“ an die „seelenlose Materie“ verraten wurde: indem man beide trennte. Und in die Angst hineinstürzte. – Aber hier?
20. April
Was wissen wir in Europa von den Arabern? Wir kommen mit irgendwelchen romantischen Vorstellungen her – und wenn wir es noch am besten und ehrlichsten meinen, ganz ohne Vorstellungen. Umso schöner und ergreifender aber kommt hier einem die Tatsache zum Bewußtsein, daß die arabische Bewegung freier Menschlichkeit – wirklich existiert und nicht nur politische Phantasie ist. Es ist wahr: die Gesetzmäßigkeit einer derartigen neuen Bewegung wird durch ihren Erfolg bewiesen; aber es ist nicht der äußerliche „Erfolg“ eines augenblicklichen Gelingens, sondern es genügt bereits, wenn die inneren Voraussetzungen der Bewegung bei ihren Trägern eine geschlossene Einheit bilden; und wo ist dies im gleichen Maße der Fall wie bei den Arabern? Sie erkennen jetzt die Notwendigkeit, ihre Eigenart in Aktivität umzusetzen, wenn sich nicht vom hereindringenden Europa aufgesogen, also unproduktiv gemacht werden soll. daß sie sich auf keine „historischen Reminiszenzen“ dabei stützen – denn hier liegt die Vergangenheit denn doch zu weit zurück –, kann schon zum Teil die Einheitlichkeit der gegenwärtigen Strömung erklären. (In Europa ist es zumeist gerade umgekehrt: die Berufung auf Vergangenes muß den nötigen Massenrausch hervorbringen, da die gegenwärtige Gemeinschaft bei weitem nicht überzeugend genug ist, um an sich schon Flamme zu sein.) Und dann: was die Araber fordern, ist ja tatsächlich so einfach, daß der Gegner (hier in Palästina: England, der Zionismus) auf die Dauer gar nicht so viel Intensität wird aufbringen können, um die Wünsche und Kräfte zum Schweigen zu bringen ... es ist so einfach, daß es sich von Mensch zu Mensch in wunderbar gerader Linie fortpflanzt ... und es ist so einfach, daß es weder im Kind noch im Greis reaktionärer Selbstverhetzung bedarf, um Spannung und Forderung unverändert zu erhalten. Innere Korruption kann ich bei diesem instinktsicheren Volk bis auf weiteres nicht absehen. Stehenbleiben ist kaum möglich – aber jeder Anlaß kann dazu dienen, die Kraft vorwärtszupeitschen.
Wie nennt man Menschen, denen alles in Übereinstimmung zu ihrer Lebenslinie gerät? Man nennt sie wohl: begnadet. Die Araber sind begnadet. Aber nur darum, weil sie von der Gnade, die jedem Geschöpf zugänglich ist, nicht weggelaufen sind. Und alle Sünden, wenn auch noch so zahlreich, vermögen nicht die hohe Wirklichkeit der Gnadenlinie zu erreichen.
22. April
Die Davidsburg hat auf der Seite der Altstadt einen kurzen, breiten Turm, in dem sich das Eingangstor befindet. Ein steinerner Brückenbogen mit einigen Stufen schwingt sich über den Festungsgraben zum Tor hin. Auf diesem Brückenbogen sehe ich fast jeden Tag einen unbeweglichen Beduinen stehe; es ist immer ein anderer – sie scheinen hier einander ein Rendez–vous zu geben, wenn sie von draußen in die Stadt kommen und sich für eine Zeitlang voneinander trennen. – Heute sah ich einen, der sich wie eine mythische Erscheinung in den silbergrauen Himmel schnitt. Er war groß und – wie alle Beduinen – derbknochig und mager; sein Gesicht mit vorstehenden Backenknochen und einem kurzen rotblonden Bart war von einem gesammelten Ernst, düster und gelassen, wartend und nicht erwartungsvoll. Seine Abbaye, der lange braun–weiß gestreifte Mantel, abgetragen – schien mir, ich weiß nicht warum, auf einer langen Flucht abgetragen zu sein. Er war wie einer von Davids Generalen, als jener mit einem kleinen Häufchen Männer vor dem kranken Haß seines Königs Saul floh. Vielleicht schlief jetzt David irgendwo in der judäischen Wüste, und dieser hier, dieser treue und tapfere Freund, war mit einem anderen Gefährten hierher geschlichen, um die Stimmung Sauls zu erkunden. Jetzt wartet er auf den anderen und scheint dunkler Ahnungen voll: er wird David keine gute Nachricht bringen.
Plötzlich fällt es mir ein: dieser hier ist ein Beduine, und jene – waren Juden! So scheinen mir, der ich doch auch Jude bin, die Juden von heute (selbst die orientalischen) von ihrem eigenen ursprünglichen Wesen unendlich viel weiter entfernt zu sein als die Beduinen – vom jüdischen Wesen aus Davids Zeit. –
Welche Paradoxie des Zionismus! Entweder heißt es: das alte jüdische Wesen, das in der Diaspora seine Auswirkung verloren hat, wieder zu erwecken – aber das kann man doch nicht durch eine so ausgeprägt europäische (und nicht einmal besonders tiefgreifende) Kasuistik, wie sie der moderne Zionismus repräsentiert – oder aber (die zweite Möglichkeit) man erkennt das jüdische Wesen von heute und gestern, die jüdische soziale Situation von heute und gestern als das Organische und Gegebene und sucht daraus eine gesunde jüdische Wirklichkeit zu bauen: dann aber fiele jeder „historische Anspruch“, jede sentimentbetonte Palästina–Politik von selbst ins Wasser. – Natürlich ist eine solche „Alternative“ schon an sich phantastisch, denn das Leben rechnet wohl nur mit Dingen, die organisch und gegeben sind.
24. April
Ich habe heute die Grabeskirche besucht. Als ich dann meine Freundin, mit der zusammen ich diesen jahrtausendealten Bau besichtigte, nach ihrem Eindruck fragte, bekam ich zur Antwort: „Ich sehe vor mir etwas sehr Dunkles und Hohes, eine Höhle aus dunklem Stein – und unter dem Bogen des Eingangs an langen Schnüren reihenweise aufgehängte rote Lampen ohne Licht; darunter wieder reihenweise silberne Schalen, Platten, Räuchergefäße, Lampen und verblaßte Fahnen. Dann in dem großen mittleren Kuppelraum, an einen der Pfeiler gelehnt, schweigend, versunken, betend in stille, eine große schwarze Frau in schwarzen Gewändern – eine Abessinierin. In diesem Raum war mehr Dämmerung als Licht. Dann in einer der vielen Höhlenkapellen Mönche, Franziskanermönche an braunen Betpulten unter hohen wächsernen Kerzen. Hier führen sie ein schönes Leben in Stille und Nachdenken. Ein weißbärtiger Alter hatte sein Kinn über den Tisch auf beide Hände gestützt und sah uns mit einem starren reglosen Blick an.“
26. April
Umzug. Aus dem arabischen Haus in ein jüdisches Haus. Und diesmal sind es Juden aus Buchara. Es gibt ihrer vielen hier in Jerusalem, sie haben sogar ein eigenes Viertel im Nordwesten der Neustadt. (Sie waren hierher gewandert, vor zwanzig und mehr Jahren, weil das zaristische Rußland bis nach Zentralasien hin seinen Judenhaß trug.)
Im Wohnzimmer meiner Wirtsleute hängt ein großes Ölbild: ein Greis in langem Mantel aus Goldbrokat und einem rotseidenen Turban; an der Brust hat er eine gelbe Rose. Es ist der Vater der Hausfrau – und war Minister des Khans von Buchara. Da das Judentum damals in diesem Lande offiziell „verboten“ war, galt er – gleich vielen anderen Juden – als Mohammedaner, besuchte freitags die Moschee und trank keinen Wein; es war eine ähnliche Situation wie seinerzeit unter den „Maranen“ Spaniens, die unter dem Druck der Inquisition äußerlich Christen wurden, ohne darum innerlich ihren Glauben zu verleugnen. Der bucharische Khan kannte den wahren Sachverhalt, aber er fragte nicht viel nach dem Gewissen seines Ministers und schätzte in ihm den klugen Menschen. – Meine Wirtin holte aus dem Schrank die Staatskleider ihres Vaters heraus; dabei kamen viele andere bunte Gewänder zum Vorschein – und so sah ich zum ersten Male die echten, alten bucharischen Stoffe.
Eine Handwebekunst uralter Tradition. So vollkommen, daß es mir unmöglich scheint, irgend etwas zu finden, das diesen Stoffen gleichkäme. Es sind nicht nur Prunkgewänder: es sind Hauskleider der Frauen, Feiertagskleider der Männer, Kleider zu jedem Gebrauch, für Mann und Frau und für alle Tage. Lachsfarbene Seidendamaste mit eingewebten türkisblauen Blüten und goldenen Blättchen; scharlachrote Seide, durchquert von Streifen in hellroter Farbe; ein Frauenkleid in Chamois und Kirschrot, in handbreiten Längsstreifen: einem crèmefaren Streifen folgt ein kirschroter, – und dieser besteht aus lauter winzigen, zahllos ineinander verschlungenen Teerosen. Zusammenstellungen ungebrochener, zarter Farbentöne, wie sie sich das europäische Kunstgewerbe erst allmählich träumen läßt – nicht gestalten, sondern erst träumen –: und hier alles in souveräner Vollendung und Einfachheit.
27. April
Vor dem Hause ist ein großer Garten mit hohen Kiefern. Auf einer steinernen Terrasse liegen die ummauerten und verschließbaren Öffnungen der Zisternen, die sich während des Winters mit Regenwasser füllen und dann in der warmen Trockenzeit den Mittelpunkt aller Existenzfragen bedeuten. Morgens und abends kommen die Frauen aus dem vorderen Haustrakt – meist ist es die Hausfrau selbst oder ihre Tochter – und holen mit Schöpfkannen an langen Seilen das Wasser aus dem Brunnen. Die Hausfrau geht nachlässig und zerzaust in einem bucharischen Hauskleid umher, das sie mit einer Hand an der Seite emporrafft (obwohl das Kleid an sich schon kurz genug zu sein scheint; aber sie tut es nur, um ihren Händen, die gerne träge und weich leben möchten, eine gewisse Gebundenheit zu verleihen); sie hat herrlich schwimmende Augen, die schwarz und lächelnd an allem vorüberschauen. Bei aller Verschiedenheit den anderen hier lebenden Juden gegenüber haben die Bucharer, und insbesondere die Frauen, doch etwas an sich, was man als „ausgeprägt ostjüdischen“ Typus bezeichnen möchte: in Wirklichkeit ist es bei den Bucharern wie bei den europäischen Ostjuden nur die Prononciertheit der individuellen Eigentümlichkeiten, die bei beiden Gruppen gleich stark ist und darum den Anschein einer Typengemeinschaft hervorruft. – Die bucharischen Frauen mit ihren vollen gedrängten Gestalten, tiefschwarzen Haaren und Augen sind seltsam und oft auf eine besondere Weise schön. Sie sind schön, weil über ihren kräftigen, von dunklem Flaum überschatteten Gesichtern eine so große Wärme und sinnliche Güte liegt, weil in ihren Bewegungen so viel Verweilen und eine solche innerliche Ruhe ist, wie man sie manchmal des Nachts in den Ställen schlafender Tiere spürt.
Auch kam heute ein persischer Jude her, ein umherziehender Flickschuster. Er hatte Augen ganz anderer Art, auch lächelnd, aber lächelnd „wie ein Kind“ (aber nie lächeln Kinder so, nur Männer, die kindlich sind). Aus der Mitte eines schweren Lebens heraus, ohne Wunsch nach Trägheit, trug er eine stille Heiterkeit in sich und einen kleinen, hellen Kreis von Bewußtheit. Seine Frömmigkeit war Güte, als er von Gott sprach.
29. April
Die Priester wimmeln in den Gassen Jerusalems. Römische, griechisch–orthodoxe, armenische, armenisch–katholische, protestantische, koptische, syrische, maronitische. Und außer den paar braunen Kutten der Franziskaner und Kapuziner: alles schwarz, mit unendlich pointiertem Pathos. Dann die Rabbiner – chassidische und sephardische, mit Turbanen oder Fuchsfellmützen, in schwarzen Seidenkaftanen und weißen Strümpfen oder in weißen tunesischen Mänteln und Schnallenschuhen; alte und junge. – Es geht von allen diesen Existenzen wie ein Gifthauch von Neid und gieriger Unduldsamkeit aus: eine Sehnsucht nach Terror. – Mir scheint, daß sie alle auf der Jagd sind, um in gehässiger und mißtrauischer Gemeinsamkeit den guten Geist zu morden. – Eine wahnsinnige Stadt.
1. Mai
Die arabischen Quartiere, die jüdischen Quartiere, die Griechen– und Armenierquartiere in der Alten Stadt ... So fühle ich Jerusalem: über den stufenartig emporsteigenden Gassen schließen sich die Häusermauern in einer skurrilen Melodie: es kommt auf das Leben an, es kommt nur auf das Leben an. Dieses Leben ist noch in sich gehemmt und nicht zur Freiheit losgelassen; zu viel Tendenzen, gegnerisch in ihrer äußeren Form, schlagen hier aufeinander ein. Aber wie im politischen Leben der ganzen Welt, wie in der Kunst, wie in der Revolution, hat das äußere Geschehnis (in der Kunst: das Werk; in der Revolution: die Tat) auch hier nur den Sinn eines Dokuments, einer Manifestation des eigenen Verhältnisses der Menschen und der Zeit zum Geist–Absoluten. Um auf den wirklichen Gehalt des Geschehens zu kommen, müßte man vielleicht nur jenen unwägbaren und darum über alle Skepsis erhabenen „Zwischendingen“ nachspüren, die uns eine irritable und aufmerksame Geduld zuweilen innerhalb der gewohnten Zusammenhänge offenbart: Elemente eines zweiten, für gewöhnlich verborgenen, wesenhaften Daseins. Kann man sie fassen und festhalten? Kaum. Nichtsdestoweniger aber sind sie wie der Weingeist des Lebens. Ein Vergleich drängt sich mir auf: wie, in unserem rein menschlichen Leben, bei den vollkommenen Geistern nicht ihre formalen „Werke“ es sind, die das positive Ergebnis darstellen, sondern nur ihre zarte und vollkommene Berührung mit dem Zusammenhanglichen der Welt – und die „Werke“ nur Niederschlag sind, nur Symbole für die Nichtverstehenden – : so will auch die „Realität“ ihr „Reales“ in eben diesen Zwischendingen finden.
En-Karem, 2. Mai
Ich bin gestern plötzlich von Jerusalem aufgebrochen und in diesem kleinen arabischen Dorf, etwa acht Kilometer von der Stadt entfernt, freudig und ruhevoll gelandet. an diesem Ort soll Johannes der Täufer geboren sein – und sie haben ihm Kirchen und Klöster gebaut. Nun kommt mir das zugute: gibt es in ganz Judäa eine lieblichere Anlage als dieses russische Frauenkloster? Und hier, in einem der fünfzig kleinen Häuschen, die mit ihrem weiten Garten, mit ihren Zypressen und gehegten Blumenbeeten den steilen Bergabhang bis zur halben Höhe bedecken, habe ich ein Zimmer für vier Tage gemietet. Es wohnen fast ausschließlich Laienschwestern hier – und sie sehen nichts Besonderes darin, eine von den leeren Häuschen den Leuten aus der Stadt um wenig Geld als „Sommerfrische“ zu vermieten.
Vor den Fenstern ein dickes Gitter. Da das Haus fast schon am obersten Ende des Klostergartens liegt, sehe ich über die tieferstehenden Zypressen und die kleine Holzkirche hinweg in das Dort En-Karem: typische arabische Häuser in Würfelform, aus Stein und Lehm gebaut, schmale kurzlinige Gäßchen, Kindergetümmel, ein paar Esel und Rinder; rechts unten eine ummauerte Quelle, an der Frauen lärmend Wäsche waschen; Gemüsegarten links, in Terrassen angelegt, von schmalen künstlichen Bewässerungskanälen durchzogen; dann die grauen Feldabschnitte, wo ein Fellache mit Spaten und Harke den Boden unter einem Olivenbau bearbeitet. Und dem Fenster gegenüber, in Augenhöhe, die weichen Formen des judäischen Berglandes, baumlos, grün, rostbraun und rosa – stahlblau in den Schatten.
5. Mai
Ich steige den Klosterberg hinunter und schaue den Fellachenfrauen beim Wäschewaschen und Wasserholen zu. Wasserholen – das ist der Kernpunkt des arabischen Lebens in den Dörfern. Die Frauen drängen sich mit Blecheimern und irdenen Krügen am Brunnen zusammen, es sind Frauen verschiedenen Alters, aber alle ungefähr gleich gekleidet: ein dunkelblaues oder schwarzes Leinwandkleid, mit einer Schnur lose um die Hüften zusammengerafft; vorne, an der Brust, befindet sich eine bunte Stickerei aus Wolle oder Baumwolle, regelmäßige und wenig variierte Formen. Ein weißes Tuch um den Kopf gewunden. Die Gewohnheit, schwere Lasten auf dem Kopfe frei zu tragen, gibt diesen Frauen eine wunderbare geschmeidige Geradheit; manchmal könnte man eine sechzigjährige Alte, wenn man sie nur von hinten sieht, für ein junges Mädchen halten; und auch ihre Augen bleiben klar und vom Alter nicht angetastet – wenn sich nicht gerade dem Trachom verfallen sind, der bösen „ägyptischen Augenkrankheit“, die überall in den orientalischen Mittelmeerländern eine endemische Erscheinung ist. (Man sieht nirgendwo so viel Blinde wie in Kairo oder Jerusalem.) – Die arabischen Landfrauen altern schnell, da sie ihr Leben lang (im Gegensatz zu den Städterinnen) schwer arbeiten müssen und ihrem Manne viele Kinder gebären: je kinderreicher eine Araberin ist (es müssen aber in der Hauptsache Söhne sein), um so mehr ist sie der Ehrung seitens des Mannes gewiß.
Manchmal gehe ich schräg in die Berge hinein. Dünne Gräser und trockene Blattpflanzen bedecken spärlich den Boden. In den Abhängen, die mit großen Steinblöcken überlagert sind, finden sich viele Höhlen mit dornenbewachsenen Eingängen; in der ältesten Zeit werden hier wohl Anachoreten gelebt haben; später, in den Wirrnissen ewiger Kriege, dienten sie den Dörflern zur erwünschten Zuflucht.
6. Mai
Wieder einmal habe ich eine Empfindung, die schon in Jerusalem aufgetaucht war und vorüberflog: ich bin hier im Mittelpunkt der Welt. Nicht etwa deshalb, weil in diesem Lande Christus lebte, predigte und am Kreuze getötet wurde; auch nicht, weil hier die Geschichte meines Volkes, des jüdischen Volkes, ihren Anfang nahm, hart aufwuchs und hart niederbrach; sondern aus einem anderen Grund. Ich bin hier im Mittelpunkt der Welt, weil ich im arabischen Leben so stark wie nirgends sonst die Gegenwart rauschen höre; – und so gewiß es ist, daß die Dinge ihren realen Wert erst durch die Bedeutsamkeit erlangen, die sie für einen Einzelnen besitzen: in der Gegenwartsfülle dieses arabischen Volkes, und daher auch in mir, der ich sie wahrnehme, ist – jetzt und für diesen Augenblick – der Mittelpunkt der Welt.
Jerusalem, 8. Mai
Ich hielt in den Händen ein Gefäß, ein Becken aus Ton, von einer seltsam feierlichen Form: groß und kreisrund, einer abgeplatteten Kugel gleich; von der wangenzarten Rundung seiner Wände schwangen sich zwei Henkel biegsam in die Luft, – mit der Hand geknetet: ich sah noch im Ton den Fingerabdruck eines primitiven Töpfers. Um den einwärts gebogenen Rand hatte er eine feinlinige Arabeske gegraben. Und ich sah, er hatte sich keine Mühe gegeben, diese ganze herrliche Einfachheit war ohne Anspruch gekommen. – Denn es war ein Kochtopf. So einer, wie ihn Fellachen und Beduinen allerorts verwenden.
Ich weiß, die Griechen hatten Vollendeteres geschaffen. Wahrscheinlich auch in Kochtöpfen. Wir aber heute: wir wissen, daß wir keine solchen Töpfe machen werden – zum Entgelt aber berufen wir uns auf unser „Kulturniveau“. Wobei aber ein Irrtum geschieht: nicht das, was europäischer Durchschnitt täglich zustande bringt, wird als „europäische Kultur“ angesprochen. Auf Spitzenleistungen aus der schöpferischen Erregung Einzelner, auf hundert auserlesene Gipfel gründe sich gemeinhin das Bewußtsein unseres Kulturniveaus. So kann es kommen, daß nicht inmitten unseres täglichen Lebens unser geistiges Leben verläuft und das wir zusammenhanglos mit uns selber und untereinander werden.
Sie aber, die Araber haben gemeinsames Niveau. Es ist die süße Grazie, die aus ihrem Blute spricht und in die Geste – und in das Wort – und in die Neigung –: durchaus die Wirklichkeit legt. Aber in Wirklichkeit sein – das heißt: einander berühren; und weiter heißt es: unsere bittere Einsamkeit ist diesen Menschen fern geblieben. –
Gesegnet ist ein Volk, das in solchen Töpfen sein täglich Essen kocht.
9. Mai
Die bucharische Familie hatte gestern abend – eigentlich die ganze Nacht hindurch – eine Art Familiengottesdienst abgehalten, einen Gedenkgottesdienst für den Vater des Hausherrn oder der Hausfrau, – ich weiß es nicht genau. Es waren viele Freunde dazu herbeigekommen, alles bucharische Juden, schön und feierlich angezogen. Die alten Frauen trugen sich in ihren farbigen Mänteln wie asiatische Königinnen–Mütter, streng, ernst, verschlossen, mit weißen oder brokatenen Tüchern, die turbanartig um den Kopf geschlungen werden. Ein Greis war da, alt und zusammengesunken, vornübergebeugt und auf einen Stock gestützt, mit einem blauen, goldgestickten Käppchen auf dem Kopf, und hatte einen weißen Atlasmantel mit breiten, langen rosa Streifen und an den Füßen weiche schwarzlederne Pantoffeln über gelben Strümpfen.
Sie beteten und sangen die ganze Nacht über, laut, hymnisch, aber wilder und zügelloser als die anderen Juden. Als es sehr spät wurde, gingen die Frauen schlafen. Ich konnte durch das Fenster im Erdgeschoß vom Hof aus das ganze Zimmer sehen. Es war nur mit Teppichen belegt, in einer Ecke am Boden stand eine heruntergeschraubte Petroleumlampe und daneben ein erkalteter kupferner Samowar. Die Frauen aber schliefen in Kleidern auf den weichen Teppichen, lose nebeneinander hingestreckt, kreuz und quer über den ganzen Raum hin. Im Schein des trüben Lampenlichts sah ich ihre farbigen, fließenden Gewänder, wie einen Blütenteich, und das Gesicht der Ältesten unter ihnen: es war bronzefarben vor Alter, zerfurcht und ruhevoll, und die weißen Haarsträhnen, die aus dem verschobenen Kopftuch hervorquollen, gaben ihm das Aussehen der Urmutter eines Indianerstammes.
11. Mai
Ramadân, der heilige Fastenmonat Ramadân geht bald zu Ende. Welch eine glückliche Idee, der „Nacht der Allmacht“, in der Mohammed die Offenbarung der ersten Koransure empfing, in einem Monat harter Disziplin zu gedenken! (Der Prophet sprach: „Der Kult der Gliedmaßen leitet zum Kult der Seelen über ...“) Vom Tagesanbruch bis zur Abenddämmerung darf weder Speise noch Trank genossen werden: dreißig Tage lang. Sie gehen alle mit glühenden Augen herum, sie fühlen die Spannkraft ins Heilige gehoben: dreißig Tage lang. In den dreißig Nächten hört man Böllerschüsse, Musik und Freudenschreie. Während der Tage sind die arabischen Gassen der Altstadt mit Pfefferbaumzweigen und Papiergirlanden dicht geschmückt.
12. Mai
(Aus einem Gespräch mit Musa Kasim Pascha, Führer der arabischen Bewegung in Palästina.)
„Palästina ist ein arabisches Land. Wir werden von diesem Recht niemals abgehen und nicht zustimmen, es mit anderen Völkern zu teilen. Ein Volk, das seit Jahrhunderten ein Land bewohnt und besitzt, kann sich unmöglich auf historische Recht eines anderen Volkes besinnen, die um Jahrtausende zurückgreifen. Wir wollen frei sein. Jedes arabische Kund wächst auf mit dem einen Gedanken: Freiheit. Wir wollen weder jüdische Heimstätte noch englische Kolonie sein – und Bestrebungen, die auf eines von beiden (oder gar beide zusammen) hinzielen, können uns keine konstruktive Zusammenarbeit abgewinnen. Unser Kampf gilt nicht dem Judentum, sondern dem politischen Zionismus – und es ist die Schuld der Zionisten, wenn heute der Mann aus dem Volke „Juden“ und „Zionisten“ identifiziert und seinen Haß gegen alles Jüdische richtet. Vor dem Kriege, vor dem politischen Zionismus gab es hier in Palästina keine Reibungen zwischen dem arabischen und dem jüdischen Element. Auch für die Zukunft ist unser Ziel ein freies Palästina, in dem jede Rasse, jede Religion völlige Gleichberechtigung findet. Auch der jüdischen Einwanderung sollen dann keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden, sofern sie nicht mit den wirtschaftlichen Interessen des Landes kollidiert; doch soll von einer Volksvertretung die Zulassung oder Nichtzulassung der einzelnen Einwanderer zum palästinensischen Bürgerrecht ausgesprochen werden. Heute stehen wir noch am Anfang einer Entwicklung, wir wissen es. Auch wissen wir, daß wir es nicht nur mit den Zionisten, sondern auch mit England zu tun haben. Das erschwert wesentlich unsere Lage, aber macht sie deshalb nicht aussichtsloser – da wir an das innere Recht unserer Sache glauben.“
Ich erfahre dazu aus anderer Quelle: In der ersten Zeit nach der Verkündigung der Balfour–Deklaration (bis vor etwa einem Jahre) gaben die Zionisten ungezählte Summen aus, um wenigstens einen Teil der arabischen Bevölkerung für sich zu gewinnen und in der Welt nicht das Geschrei erheben zu lassen: „Palästina ist ein arabisches Land!“ Das letztere unterbleibt sowieso, da die Araber über keine Propagandamittel im Ausland verfügen, um dem tendenziösen zionistischen Nachrichtendienst erfolgreich entgegenzutreten; das erstere aber – arabisch–zionistische Kooperation – ist niemals gelungen. Ein damals sehr einflußreicher zionistischer Politiker (früherer Privatsekretär des Barons James Rothschild) gründete allerdings eine „Mohammedanische Nationalpartei“, die beweisen sollte, daß große arabische Kreise zur positiven Arbeit auf der Grundlage der Balfour–Deklaration bereit seien. Die Parteimitglieder (es waren ihrer schon damals nicht viele) erhielten aus den zionistischen Kassen Gehälter, deren Höhe in gar keinem Verhältnis zum lächerlich geringen Erfolg der ganzen Bestrebung stand. – Jetzt haben die Zionisten keine Gelder mehr, um sie entgegenkommenden Zeitungen und Persönlichkeiten zu zahlen – und so kommen diese Sache allmählich ans Licht.
13. Mai
(Aus einem Gespräch mit Herrn Ussyschkin, Vorsitzenden des Zionistischen Aktionskomitees in Palästina.)
„Auf welche Weise hofft der Zionismus in Erfüllung seines Programms die politischen Schwierigkeiten (arabische Gegenbewegung) zu überwinden?“
„Es gibt hier keine arabische Bewegung, die im Volk ihre Wurzeln hätte. Was als solche auftritt, ist auf eine durchaus persönliche Aktion einiger unzufriedener Agitatoren zurückzuführen; und diese „Bewegung“ wird über kurz oder lang in sich selbst zusammenbrechen.“
Es ist wunderbar, wie genau diese Worte mit denen eines englischen Politikers übereinstimmen, mit welchem ich mich vor acht Wochen in Kairo über die ägyptische Nationalbewegung unterhielt...
16. Mai
Nun ist aber die arabische Föderation zustande gekommen. Vorläufig auf dem Papier, in London – aber selbst das „auf dem Papier“ ist für eine so gesunde Bewegung kein Hindernis. Man darf sich allerdings nicht darüber täuschen, daß die Form, in der dies geschah, von der Realisierung arabischer Wünsche noch sehr weit entfernt ist. Noch ist es eine Föderation innerhalb der britischen Einflußzone und innerhalb einer Königsfamilie: denn der Vater Hussein (Haupt der künftigen Union) ist König von Hedschas und Groß–Scherif von Mekka; sein jüngerer Sohn, sein Lieblingssohn Faissal, König des Irak; und Abdallah, der ältere Sohn, Emir von Transjordanien. Man darf Husseins Einfluß unter den Arabern doch wohl nicht zu sehr überschätzen, – und der Vertrag, der nunmehr zwischen ihm und England abgeschlossen wurde und die Vereinigung der drei Gebiete – Hedschas, Irak und Transjordanien (Kerak) – unter Mekkas Hegemonie zum Inhalt hat, wird noch lange nicht als rechtsgültiger Akt zwischen allen Arabern und dem Westen angesehen: man weiß zu viel von der persönlichen Freundschaft Husseins England gegenüber – und ist mißtrauisch. Aber immerhin ist der erste Schritt getan, und es ist möglich, daß die anderen Staaten Arabiens – Asir, Yemen und vielleicht sogar Nedschd – sich dem Bund anschließen werden; das letztere (Nedschd) allerdings nur unter gewissen Einschränkungen, die Husseins „Oberherrschaft“ ausschließen dürfte.
Es gehen hier Gerüchte um, daß Emir Abdallah König des vereinigten Cis– und Transjordanien werden soll. Unwahrscheinlich. Die Zionisten wehren sich natürlich krampfhaft gegen einen solchen Gedanken – um so mehr als Abdallah eigentlich schon jetzt von den palästinensischen Arabern (d.h. von den Moslems, nicht von den Christen) als Haupt der nationalen Bewegung in Palästina angesehen wird.
18. Mai
Man sieht hier manchmal schwarze Beduinen auf den Straßen, – Neger, die seit undenklicher Zeit in Kleidung und Sitte den freie Beduinen gleichen, unter denen sie zwar als Stammesfremde, aber doch als Vollberechtigte leben. Merkwürdig: der stolze B'dui verachtet den Europäer, verachtet den Türken (obwohl auch dieser Moslem ist) – und akzeptiert den Neger, der sonst überall, inmitten kaukasischer Völker, als zweitklassig gilt. – Rassenverirrung oder Demokratie? – Diese Neger aber sind frei und stolz.
21. Mai
Wie aus alchimistischer Retorte ein oszillierendes Gebräu, klar und doch von tausend unbestimmten Farben, unfaßbar, unsagbar – : so siehst du vom Ölberg das Jordantal und das Tote Meer. Wellige Berge und wellige Berge, hauchzart gezeichnet in einer geheimnisvollen Luft, weit hinten der tiefblaue Streifen des Jordan und die Rundung des Sees – und darüber hinaus, wieder eine Welt für sich, die dämmrigen Berge Moab.
Diese Landschaft ist von so unglaublich vielfältiger Schönheit, daß du sie mit den Sinnen nicht erfaßt, sie geht – überirdisch – über dich hinweg und beruhigt deine Seele.
* * *
Als wir abends in die Stadt zurückkehren wollten, verirrten wir uns und gerieten immer tiefer in die hereinbrechende Nacht hinein, in die steinigen Berghänge ohne Pfade, in die lautlose Stille einer menschen-und tierfernen Öde. Wir hatten keine Eile; wir ließen unsere Füße nach dem Boden tasten. Es war warm. Wenn man sich zum Ausruhen niedersetzte, schwirrten die Moskitos singend um die Körper herum und suchten nach der bloßen Haut. Endlich fand man einen Weg, einen schmalen ausgetretenen Pfad, der schräg am Hügel hinaufstieg, dorthin, wo Jerusalem liegen mußte, ganz nahe und ungesehen. Dann schlug ein Hund im Dunkel an. Als wir weiter gingen, über die Steine stolperten, kamen uns Stimmen zu Ohr – wirr, gedämpft, wie von vielen Menschen. Dann, wie wenn in Nebelnächten in der Großstadt der Schein einer noch unsichtbaren Laterne hinter einer Hausecke hervorkommt und eine Weile nur den Nebel leuchten läßt, erschien ein schmaler Lichtstreifen von unten her, gleichsam aus dem Boden, steil aus der dunklen Luft emporsteigend; ein Feuerschein allmählich; aus der Erden? Aus einer tiefen Schlucht, wie wir jetzt wahrnehmen konnten; sie viel mit scharfen Rändern links vom Wege ab und ließ den Berg so überhängen, daß man nur wenig von ihrem Grunde zu sehen bekam. Die Stimmen stiegen jetzt deutlicher herauf, ich konnte die Worte verstehen, während die Sprecher unsichtbar blieben; es waren Hirten. Wir hörten das Atmen zahlloser Tiere – Schafe und Ziegen – , und wie sie sich in der Enge aneinanderrieben. Ein großer schwarzer Mannesschatten fiel über den Lichtschein, lief an der gegenüberliegenden Seite der Schlucht hinauf und hinunter ... Ein Schaf blökte leise; ein Hund knurrte. Die Nacht war überall außer der Schlucht schwarz und ohne Sterne.
Wir gingen mit benommenem Kopf weiter, wie nach einem geheimnisvollen Erlebnis, bis wir an die graue Stadtmauer Jerusalems stießen.
23. Mai
Im Mai kommen die breiten Wellen der Chamsine, streichen in Schüben von fünf, sechs Tagen aus der arabischen Wüste zum Mittelmeer und tauchen den blauen Himmel in zitternde Glut. Heute ist Chamsin. Und es ist Mittag. Ich liege auf einem Balkon über der Altstadt und horche auf das leichte Gebraus ihrer Gassen. Vor mir, auf der Galerie eines Minaretts neben der grünlichen Kuppel der Grabeskirche singt ein Muezzin seinen melancholischen Gebetsruf, zart und einladend. Ich kann ihn gut sehen, er ist knochig und noch jung; und er singt gut. Unten im Hof schreit ein Kamel – Schrei ist wie das Röhren eines märchenhaften Riesenhirsches im Walde.
Es ist Mittag, Ruhe ohne Hast. Jemand singt ein arabisches Lied in den Gassen: ich erkenne die Stimme, ich kenne diese Bettlerin, ich liebe dieses alte, schmerzlich–verzückte, breite und blinde Madonnengesicht.
Scharen von Schwalben fliegen wie verhext in großen Kreisen um die flachen Dächer und die Kuppeln – um all diese weißgelben, gefleckten Bauten aus Stein inmitten eines blendenden Lichts – um den gewaltigen Hof der Omar–Moschee, über diese summenden, verborgenen, in Stufen verlaufenden, hallenartigen Gassen.
Der Mittag ist still, wenn auch Klänge vernehmbar sind. Ich sagte einmal, man könnte diese Stadt nicht lieben – vielleicht aber könnte man es, wenn man sie so von oben ansieht und an ihr Unterstes, Lebendigstes denkt; dort, wo sie nicht „heilige Stadt“, sondern köstliches Heute ist.
Und meinetwegen könnte dazu der singende Muezzin gehören und die Grabeskirche mit ihren herrlichen Glocken und noch manches andere – meinetwegen auch die schwarzröckigen Priester und die bunten Rabbiner – wenn nur das Kamel, das da unten röhrt, und der erstbeste Wasserträger auf der Straße nicht um ihre Gleichberechtigung betrogen werden!
25. Mai
Nicht in unerwarteter Weise wird mir Englands Stellung gegenüber dem Sozialismus im Orient offenbar. Nur das Maß der Angst ist seltsam. Ich sprach darüber mit einem höheren englischen Beamten, der mich in seine Freundschaft gezogen hatte und nun manches äußerte, was nicht zu äußern war. Er erzählte mir, „im tiefsten Vertrauen“ (das zu brechen mir sofort als eine selbstverständliche Pflicht erschien), daß das Prinzip: Sozialismus ist erlaubt in England, nicht aber in den Kolonien – von London aus allen administrativen Organen zu einer Art „Herzensprinzip“ gemacht wird. Es existieren geheime Zirkulare, die die Bekämpfung aller sozialistischen Tendenzen mit allen Mitteln anordnen; der Durchführung dieser Befehle dient eine eigene Spionageorganisation („Intelligence“), die in allen Schichten der Bevölkerung, sowohl in Palästina als auch in Ägypten, ihre Vertreter und Informatoren hat; jeder sechzehnjährige Schuljunge, der im Verdacht „bolschewistischer“ Neigungen steht, wird in ständiger Evidenz gehalten ... Und dabei hat man nicht nur Besorgnis hinsichtlich des extremen Kommunismus, sondern auch vor jeder Art gewerkschaftlicher und parteipolitischer Arbeiterorganisation; um diese letzteren Bestrebungen zu paralysieren, bedient man sich mit Vorliebe der orthodoxen, religiös–zionistischen Arbeitergruppen des „Misrachi“–Bundes. – In den Jerusalemer Regierungskreisen herrscht die Auffassung, daß die revolutionären Strömungen des Nahen Ostens ihr Zentrum in Moskau haben. Im großen und ganzen ist es ein Irrtum. Es gibt hier zwar Gruppen und Vereinigungen, die aus irgendwelchen Auslandsquellen Geld erhalten und es für kommunistische Propaganda unter der Bauernschaft verwenden; aber wenn man ihren Umfang und ihre Ausdehnung näher besichtigt, stellt sich heraus, daß in ihnen unmöglich das „Gefahrenzentrum“ liegen kann; sie sind zu gering und dringen nicht durch. Und trotzdem? England hat Angst. Und vielleicht nicht mit Unrecht. Denn es wird zwischen der arabischen, der orientalische Nationalbewegung und dem außenpolitischen Weg der russischen Revolution ein seltsamer Parallelismus sichtbar: es ist nicht, wie die Engländer zu behaupten pflegen, eine Beeinflussung von Moskau her, sondern man kann an der selbständigen, nicht selten sogar kommunistenfeindlichen arabischen Bewegung wahrnehmen, daß sie nach derselben Richtung hinstrebt wie die russische Revolution: denn auch diese bedeutet schließlich nur den Willen der Welt, aus den verbrauchten und erstickenden Konstellationen heraus einen Weg zu positiver Entwicklung, einen Anschluß an das Unmittelbare zu finden. Anschluß an das Unmittelbare...: den Arabern liegt er nicht fern, vielleicht brauchen sie nur noch ein wenig mehr Anstrengung, und sie haben ihn erwischt.
Sowjetrußland schien ein erratischer Block, eine singuläre Erscheinung. Ich glaube, daß es in der Geschichte singuläre Erscheinungen (von solcher Dauer, wohlverstanden) nicht gibt, und daß bedeutsame Kraftströmungen erst zum Ausdruck kommen, wenn sie in der umliegenden Welt Parallelismen spüren.
27. Mai
Nachträglich wird es mir auch verständlich, daß in der Art, wie England die „sozialistischen“, „umstürzlerischen“ Tendenzen im Orient fürchtet und bekämpft, wieder das Nachlassen des alten politischen Instinkts sichtbar wird: denn nicht die soziale Revolution kann hier für den Bestand des britischen Imperiums gefährlich werden – sie ist hier noch lange nicht reif genug –, sondern nur die nationale Revolution der orientalischen Völker. Es war der Weltkrieg, der auch im Osten die Geister erregte und erweckte, ihnen aus dem Gewirr vorhandener, gestern noch ungreifbarer Möglichkeiten Weg und Tempo wies. Die Araber, in ihrer sensiblen, unverträumten Instinktsicherheit, lernten rasch die neue Wege gehen; ihrem Wesen war seit je das ungeklügelte Axiom zu eigen: Kräftezersplitterung ist Verzicht von vornherein.Sie wollen nichts als das Nächstliegende: Unabhängigkeit. Aber dieses mit aller verfügbaren Kraft.
Im übrigen ist die englische Okkupationspolitik in Palästina maßvoll und recht unparteiisch – d.h. sie spielt den Zionismus gegen die arabische Bewegung aus, und umgekehrt. Da es bisher zu keinen englischen Gewaltakten gekommen ist und England seinerseits so und so oft betont, es wäre hier nur in Erfüllung seines Völkerbundmandats, sind auch die „Tommies“ lange nicht so verhaßt wie in Ägypten. (Und zwar sind es hauptsächlich indische Truppen; englische und irische Abteilungen versehen Gendarmerie–Dienst.) Schließlich haben die hiesigen Araber keine so langjährigen Erfahrungen hinsichtlich der Engländer wie die Ägypter. Im Norden aber, in Syrien, sehen sie den rücksichtslosen französischen Bajonett–Terror und sind den Engländern für die „Toleranz“, die sie im Gegensatz zu jenen Zuständen beobachten können, indirekt dankbar – wenn auch das Wort zu weitgehend ist. Das Wissen aber, daß England die Balfour–Deklaration vertritt, löst eine viel schärfere Opposition aus, als es vielleicht eine direkte englische Kolonialpolitik täte: denn der Zionismus erscheint den Arabern wie ein Symbol des westlichen Machtwillens.
31. Mai
Stirbt der Zionismus bald? Wie die Antwort auch lauten mag, eines ist sicher: er lebt heute nicht. Hier nicht. Er ist nicht gestorben; es ist nicht etwa einem lebendigen Organismus gewaltsam – von außen oder von innen – ein Ende gesetzt worden, sondern diesem Organismus selbst fehlt jene atmende Substanz, die Leben erzeugt und selbst Leben ist. Wie in bedrückender Verstaubtheit eine Minute in die andere gleitet, eine Stunden in die andere, ein Tag in den anderen –: das ist das traurige Schauspiel des jüdischen Palästina von heute. Nichts ist Erfüllung, alles ist Enttäuschung. Die Fiktion „neues Leben blüht aus den Ruinen“ wird nur noch außerhalb des Landes ihren Klang bewahren; hier ist sie bestenfalls Hoffnung auf eine unbestimmte Zukunft. Und es ist selbst schwer, Mitleid zu haben mit diesem Bestreben, das letzter Desillusionierung verfallen zu sein scheint; so stark drängt sich dabei die Empfindung auf: es löst sich hier etwas Falsches über seinen falschen Voraussetzungen auf.
Stirbt der Zionismus bald? Die Araber wünschen es heiß, weil sie ihm nie verzeihen werden, daß er der englischen Politik den Vorwand bietet, Palästina zu einer de-facto-Kolonie der britischen Krone zu machen. Daß aber andererseits die Führer der zionistischen Bewegung genau wissen, in welch hohem Maße sie einer fremden Macht zur Unterwerfung eines dritten Volkes dienen, und daß sie daneben willig auf die eigene Volkssouveränität für absehbare Zeit verzichten: hier liegt das Fiasko und die Selbstverurteilung dieser Bewegung.
Die Engländer aber lassen den Zionismus langsam fallen. Nicht nach außen hin: denn da ist der Völkerbund und das Mandat und die Balfour–Deklaration; ein ethischer Mantel von ähnlich internationaler Bedeutung wird nicht so ohne weiteres aufgegeben. Doch kann man gerade hier in Jerusalem eine Änderung in der taktischen Einstellung der britischen Politik gegenüber dem zionistischen Problem wahrnehmen, eine Art lauer, unausgesprochener und latenter Ablehnung – bei einer (ebenso lauen und ebenso unausgesprochenen) Schwenkung nach der Seite einer arabischen Realpolitik hin. Nicht etwa um der Recht der Araber willen; denn England wird für die Araber sein, um einmal, wenn es gefährlich sein sollte, nicht gegen sie sein zu müssen. Aber die Balfour–Deklaration – das Versprechen an das jüdische Volk –, wird auch dieses Versprechen umgeschmissen? Keineswegs. Die Balfour–Deklaration wird nie widerrufen werden. Auch wenn sie eines Tages aus der praktischen Politik ausgeschaltet werden sollte, kann sie ein stilles de-jure-Dasein inmitten so vieler anderer veralteter Gesetze und Programme finden: denn in England widerruft man Gesetze nicht gerne. Und diese internationale Geste, diese Deklaration einer „human civilization“ wird ihre Vorteile offenbaren, sie wird zur Hand sein, wenn es eines Tages gilt, eine Trumpf gegen die palästinensischen Araber auszuspielen. Dazu wird sich in den nächsten Jahren wohl noch öfters die Notwendigkeit ergeben; denn Palästina – das ist immer und immer wieder: das östliche Ufer des Suez–Kanals. (Und dies ist der Sinn einer arabischen Konföderation unter den Auspizien der Downing Street: da ja nun einmal auch östlich vom Suez–Kanal arabische Länder liegen...)
6. Juni
Jerusalem in der Umgebung des Damaskus–Tores ist das arabischeste Jerusalem. Wenn in den anderen Teilen der Altstadt die Levante ihre unverkennbaren Farben zeigt, so ist hier das Leben durchweg arabisch. Ich sitze manchmal auf einem der winzigen Hocker an der Wand eines arabischen Cafés und sehe die Reinheit und Grazie dieses Lebens. Fellachen vom Lande gehen derbknochig und schwer mit ihren bepackten Eseln und Maultieren vorbei, die Schleppe eines langen Beduinenmantels schleift majestätisch durch den Straßenstaub, zuweilen sieht man in Begleitung dieser stolzen Männer eine sonderbar schöne Frau, die unverhüllt (da nur die Städterinnen zum Schleiertragen verpflichtet sind) ihr schmalliniges Gesicht zeigt; ein kalter Blick geht über dich Fremden hinweg. – Ein Speisenhändler bietet seinen Pilaf, die arabisch–türkische Reisspeise, an – ich esse ohne Bedenken aus seinen Allerweltsschüsseln, empfinde nicht den Ekel, der mich in ähnlicher Situation in Europa (sagen wir: in Leipzig) sicher überkommen würde; denn dieser Anmut dieser arabischen Menschen liegt überall in ihrem Tun – und Anmut ist niemals schmutzig.
9. Juni
Eine wunderbare Menschenrasse sind die Abessinier, denen man in Jerusalem oft begegnet. Außerordentlich feine und bewegliche Gesichter, braungelb bis kaffeebraun, schlanke, meist hohe Gestalten – reiner äthiopischer Typus, der nichts mit dem Neger gemein hat; und sie tragen mit unglaublichem Schwung ihre groben Manteldecken über den weißen Gewändern. Unruhe scheint ihnen fremd zu sein, sie sind fern von unseren – auch den orientalischen – Besorgnissen und Strebungen. Ich sprach heute einen auf der Straße an. Er verstand nicht Arabisch und antwortet in einem schönen Französisch. Dann: „Sie sind, wie ich glaube, aus Deutschland?“ „So ungefähr: aus Österreich.“ „Ah, Autrichien! Nous sommes des amis, je suis Abyssinien!“ – Er schüttelte mir freudig die Hand.
10. Juni
Ich träumte heute nacht:
Abessinien. Ich habe mich immer danach gesehnt, in dies Land zu kommen – jetzt bin ich da. Vor den Fenstern meines leeren Zimmers liegt die grüne Berglandschaft, weiß nur in der gewundenen Linie der Straße; weiß windet sich die Straße in die grünen Berge hinein. Ich fühle, am Fenster stehend, den unheimlichen Druck eines tragischen Verhängnisses über Abessinien: denn unermeßliche Indianerhorden haben (ähnlich den Tatarenzügen aus dem europäischen Mittelalter) das Land überschwemmt – mordend und brennend; und obwohl die Abessinier tapfere und kriegerische Männer sind und sich zur Wehr setzen, werden sie vor der gewaltigen Überzahl der Feinde unterliegen. Die Indianer sind vorzüglich bewaffnet, sie töten und plündern, – und das Land schweigt, erstarrt in einem furchtbaren Leiden. Auf der Bergstraße vor meinen Augen erscheint eine kleine Schar abessinischer Reiter: die großen schlanken Gestalten sehen wunderbar aus in ihren weißen Gewändern, auf den schönen Pferden; sie gehen in den Kampf, sie werden alle sterben ... Ich empfinde ein wahnsinniges Mitleid mit diesem schönen, freien, schweigsam-mutigen Volk, – ich frage mich in quälendem Entsetzen, warum sie denn alle sterben sollen...?! – Und dann bringt man mir ein Schiffsbillett, das bei einem der gefallenen Indianer gefunden wurde, ein „Ticket“, ausgestellt von einer großen amerikanischen Schiffsgesellschaft – – und es wird mir auf einmal klar, als ob mich jemand vor den Kopf schlüge: die Indianer, dieses wilde und barbarische Volk, sind nicht von selbst hierhergekommen; man hat sie hergebracht; man hat sie absichtlich auf riesigen amerikanischen Transportdampfern übers Meer geschafft, man hat sie mit den modernsten Waffen ausgerüstet – und sie dann auf Abessinien losgelassen; und nun soll ihre Wildheit und große Anzahl die Abessinier vernichten, da das Abendland mit diesen nicht fertig werden konnten... Und als ich die ganze Furchtbarkeit und Scheußlichkeit dieses Verbrechens erfasse, werde ich von so mitleidsvoller Verzweiflung ergriffen, daß ich mit meiner ganzen Kraft und über meine Kraft hinaus in alle Welt schreie, an die Zeitungen aller Welt telegraphiere: man möge nur diese grauenvolle Kulturschande, über die unser Westen von seinen Regierungen in Unwissenheit gehalten wird, hinausposaunen; – ich flehe die Menschen aller Welt an, das weitere Morden zu verhindern und das feine und mutige Abessiniervolk zu retten... zu retten, ehe es zu spät wird...!
... Dann befinde ich mich in einem engen, mauerumgebenen Hof, viele Menschen sind anwesend, – sie haben sich zu einem besonderen Schauspiel versammelt: ein kleiner abessinischer Knabe, als Franctireur gefangen genommen, soll jetzt öffentlich gehängt werden; er steht bleich und zitternd an der Mauer. Eine Stille tritt ein: es erscheint, mit der Gemahlin am Arm – Sir Herbert Samuel, der englische High Commissioner für Palästina; beide sind in festlicher Kleidung; sie nehmen auf einer erhöhten Tribüne Platz, – und der Henker legt dem abessinischen Knaben den Strick um den Hals. –
Ich mache eine letzte Anstrengung, zu rufen, zu verhindern... die Welt der Anständigen aus ihrem ahnungslosen Schlaf zu erwecken... und wache auf.
(Nach dem Aufwachen notierte ich mir: Setze „Europa“ an Stelle von „Amerika“, „Orientalen“ an Stelle von „Abessinier“ – und der „politische“ Inhalt dieses Traumes bedarf keiner weiteren Erklärung.)
Bethanien, 12. Juni
Wenn die Landstraße hier in aller Einsamkeit der judäischen Berge um die heiße Mittagszeit einem Fußgänger, der nach schnellem Marsche plötzlich stehen bleibt, dasselbe Summen in den Ohren raunt wie jede andere sommerliche Landstraße in Europa oder sonstwo: ist es nicht dann, als ob es wahrhaft gleichgültig wäre, daß diese Straße von Jerusalem nach Jericho führt? Und eine glühende Welle rieselt vom Nacken über alle Glieder; auch sie erinnert beruhigend, daß du immer nur deine eigenen Glieder spazieren führst.
Daran können auch die Fellachenfrauen nichts ändern, die in Gruppen, mit flachen Tragkörben auf dem Kopf, über die sonnige Straße gehen. Sie sind immer allein, die Männer überlassen sie sich selbst; sie sind immer allein und gehen unermüdlich die Landstraßen auf und ab, in ihren schwarzen oder blauen Kleidern, die auf dem Bruststück geometrische Buntstickereien tragen. Die jungen kräftig und mädchenhaft blühend, die älteren häßlich, verrunzelt, welk, unter der Last eines arbeitsreichen Lebens rasch verbraucht.
Auf den Feldern treiben die Männer sommerliche Bauernarbeit. Sie dreschen Korn, indem sie zusammengekoppelte Esel und Rinder im Kreise über das aufgehäufte Getreide stapfen lassen, stundenlang im Kreise herum, bis die Körner von den Ähren frei werden. Seltener nehmen sie sich die Mühe, einen Stein oder ein beschwertes Brett an die Koppel zu binden, um die Arbeit zu beschleunigen. Aber auch so bearbeitete Felder ernähren ihre Bebauer, die niemals Hunger leiden – und damit behalten sie recht.
Chân el-Hadrûr, 13. Juni
Dieser Chân ist wie ein Kastell über der Wüste Juda. Mitten durch die Verlassenheit der kahlen, rostbraunen und gelben Bergkuppen, die nur hier, nur in Judäa so weich und mit so vielen sanften Einbuchtungen ineinandergleiten, mitten durch diese erhabene Unfruchtbarkeit windet sich die Straße auf das Hochplateau, auf dessen Rande der Chân al–Hadrûr steht. Überall im hotelfremden Orient findet man solche Châns, Herbergen für Reisende. Alle haben den gleichen großen Hof, in dem sich das Leben des Hauses abspielt, und rings um den Hof herum Stallungen; darüber Wohnungen – leere Zimmer mit festgestampftem Estrich, auf dem du dich schlafen legst, oder bestenfalls noch mit steinernen Pritschen an den Wänden. wenn der Reisende Pferde oder Esel mitbringt, dann hat er freie Wohnung und muß nur das Futter seiner Tiere bezahlen.
Im Chân el-Hadrûr ist es mäuschenstill; nur manchmal unterbricht das Gackern eines Huhns das Schweigen. Keine Reisenden außer mir. In der Gaststube spaziert der ganze Hühnerhof herum, auch ein Schaf mit violett–gefärbtem Schwanz. – Der Chân ist alt und verfallen. Sein einziger Stall hat Zugang durch die Gaststube. Kühler Bergwind weht quer durch das Haus. Über dem Haus ist ein Berg und auf dem Berg steht die Ruine einer mittelalterlichen Burg. O diese namenlose Einsamkeit. –
Ich blicke durch die angelehnte Tür in den Nebenraum. Ein Mann steht barfuß auf dem Gebetsteppich, mit ausgebreiteten Armen und zurückgeworfenem Kopf. Er bewegt leise die Lippen, seine Augen sind geschlossen, er ist ganz von seiner Versunkenheit erfüllt. Er würde es genau so auf der Straße in Kairo machen oder in irgendeiner anderen Weltstadt – genau so wie er es hier macht. Denn er ist in einen Kreis gebannt und ein fester Teil dieses Kreises: Mohammeds Volk. – Die Tradition ist so lange positive Kraft, so lange sie ihre Unbedingtheit bewahrt; so war es einst, in der biblischen Zeit, mit den Juden, so ist es heute noch zum größten Teil mit den Arabern. Wird aber die Unbedingtheit einmal durchbrochen, so bleibt: Konvention. Die Araber sind noch recht weit davon.
14. Juni
Warum ist heute die Bewegung des islamischen Orients so wichtig für das geistige Erleben Europas? – und tausendmal wichtiger als alle Schwärmereien für den Fernen Osten, für China und seine kühle Philosophie? Lao-tse ist groß und erhaben. aber es gilt jetzt nicht nach dem Erhabenen zu sehen, sondern nach dem organisch Bedingten. Und gerade der islamische Orient, heute einzig und allein dieser, kann uns in seiner primitiven und unkomplizierten Struktur unsere eigene Gegenwart gleichsam transparent offenbaren, auf die Zusammenhänge zwischen Leiden und Leidenswurzel hindeuten. Hier ist noch Gebundenheit, dort (in Europa) sehnt man sich aus der zersetzenden Ungebundenheit heraus, nach einer Gebundenheit tieferer Art, als es politische Schlagworte der letzten Jahrzehnte umschreiben könnten. – Wie werden wir unser Leben anders begreifen, als: – daß die Tendenz aller Zeiten darauf ausgeht, die eigenen Kräfte restlos auszuleben und zu verbrauchen –? Dies scheint das Ziel zu sein: Kräfte-Verwendung. Nicht um Quantität und Richtung dreht sich das Problem. Und wenn Europa heute leidet und wie im Krampf steht, so ist es nur deshalb, weil es von der Unmittelbarkeit weggelaufen ist und nun die eigenen Kräfte nicht verwenden kann: in der Unkenntnis ihrer Beschaffenheit. Darum das Form-Suchen in Politik, Soziologie, Kunst – und darum der bittere Kampf zwischen den Prinzipien.
Der arabische Orient ist noch nicht zum „Formproblem“ gekommen – aber kann man denn sagen: „noch nicht“ –? Vielleicht – wahrscheinlich – wird er in einer ganz anderen Art sein (notwendiges) Leiden finden; im Augenblick strebt er nur, in instinktiver Geradheit, zur Aktivität ohne vorbestimmte Form – und nicht zum wenigsten aus Protest und Auflehnung gegen die westlichen Machtbestrebungen. So wirkt Europa befruchtend, weil es den Orient an seine eigenen Kräfte denken läßt. Und in der an sich negativen, sicher aber den Orient erweckenden Einwirkung Europas auf diesen – zeigen sich, langsam und in Umrissen erst, dieselben unheilschweren, schmerzlichen Energien, die in Europa das Bild der Gegenwart beherrschen: der Gegensatz zwischen einem Utilitarismus, der sich „liberal“ gebärdet, und dem ersten Aufdämmern eines lebendigen, freiheitlichen (nicht „liberalen“) Prinzips, wie es Europa noch nicht kennt. Vielleicht hat es auch der Orient nie gekannt, jedenfalls aber ist er jetzt dabei, das große Neue aus sich selbst heraus zu finden – und dem Sinn der politischen Freiheitlichkeit, in ihrer letzten (nicht nur abendländischen) Bedeutung, Ausdruck zu geben: in der persönlichen Grenzenlosigkeit des Einzellebens.
15. Juni
Ich sitze im Torbogen des alten Châns, manchmal jagt über diese Landstraße zwischen den Bergen lärmend ein Auto vorüber – und dann löst sich aus der dicken Staubwolke von selbst das Verstehen, warum dieser und mancher andere Chân in Palästina allmählich zugrunde gehen; sie werden von der Geschwindigkeit überrannt; als man sie baute, dachte man an die langgezogenen Karawanen, an den schweren langsamen Schritt der Lastkamele, an die einsamen Reiter und die dunklen, jäh hereinbrechenden Nächte des Südens –. Jetzt aber reist man von einer Ecke Palästinas zur anderen im Auto (und selbst die Eisenbahn, so vorzüglich sie auch ist, hat unter der Konkurrenz zu leiden).
Ein arabischer Hochzeitszug geht über die Landstraße. Kinder schwärmen zahllos voraus, auf einem Kamel wiegt sich die Braut, eine undurchsichtige Pyramide von weißen Musselinschleiern (nur kleine Stiefel aus rotem Saffian ragen unten heraus); der Bräutigam im blauen Mantel zu Pferd: ein junges, braunes, lachendes Landmanngesicht; dann auf Mauleseln Kisten und Betten. Viele Leute ziehen mit, Männer und Frauen, ein ganzes Dorf, und erfüllen für Augenblicke die Einsamkeit der Berge mit Lärm und Singen. – Aber die Einsamkeit legt sich rasch wieder über alles dahin, breit, heiß und selbstverständlich.
Ich sitze im Torweg, spinne meinen gestrigen Gedanken fort: „Kräfte–Verwendung“ ... Wenn die Kräfte (darunter verstehe ich das Primitivste: die auf Bejahung und Erwerbung des Lebens gerichteten Triebe) eines Individuums, eines Volkes – nicht in der Folge ihres Reifwerdens auch tatsächlich ausgelöst, realisiert werden können, ballen sie sich rückwirkend zusammen: gegen das Subjekt. (Und nochmals: die Juden – als sie für ihre Kraft keine „Gott“–Bindung und –Auslösung mehr hatten... und deshalb zugrunde gingen.)
* * *
Die primäre Forderung einer Volksentwicklung ist zu allererst auf das Erlebnis der eigenen Aktivität gerichtet (wie auch beim menschlichen Individuum); man will im Spiegelbild einer Wirkung auf die Außenwelt das eigene Wesen sehen und erkennen; dann erst kann die weitere Entwicklung und Befreiung zu höheren kulturellen Stufen – stufenweise vor sich gehen. – So ist es auch zu verstehen, weshalb die englische Furcht vor sozialen Revolutionen im Orient auf falschen Voraussetzungen beruht: denn die Araber sind (dies nicht als Wertung gedacht) noch nicht reif zu einer anderen als rein nationalen Entwicklung; nur ein Individuum oder ein Volk, das sich selbst bereits in der – durch persönliche Gegebenheiten bestimmten – Aktivität gesehen hat, ist reif zu inneren Umschichtungen. Allerdings: dieses Erlebnis der eigenen Aktivität muß sich nicht auf das gegenwärtige Individuum (Generation) beschränken, es kann auch an dem Leben der Vorfahren erlebt werden – nur muß in diesem Fall, notwendigerweise, die Kontinuität der gleichlinigen Entwicklung zwischen dem aktiven Gestern und dem aufnehmenden Heute gewahrt bleiben. Nun ist bei den Arabern der kontinuierliche, tatsächliche Zusammenhang mit dem Erlebnis der Vorfahren lange Zeit hindurch unterbrochen gewesen (die Frage „warum“ gehört nicht mehr in die Gegenwart): also muß die gegenwärtige arabische Schichte erst sich selbst in der (nationalen) Aktivität sehen, um für weitere Entwicklung Raum zu gewinnen. (Weshalb es auch lächerlich erscheint, wenn von den Arabern gesagt wird, sie hätten bis jetzt „nichts geleistet“ – und damit ein wertendes Urteil abgegeben wird.)
Die große Weltgeschichte wird wohl während der nächsten zehn oder zwanzig Jahre vom stillen Duell England–Rußland ausgefüllt sein. England aber hat den ganzen arabischen Orient gegen sich (denn die wohlgehegte Freundschaft mit König Hussein scheint nur durch die persönliche Existenz dieses letzteren gesichert); und das revolutionäre Rußland ist klug genug, um zu wissen, daß es hier unendlich viel mehr erreicht, wenn es nicht die orientfremden, spezifisch westlichen Sozialmaximen zu verbreiten sucht (denn diese können sich kaum der völlig anders gestalteten Lebensart des östlichen Menschen anpassen, er braucht sie nicht), sondern indem es die nationale und persönliche Entwicklung des Orients auch für die Zwecke einer möglichen Weltbefreiung als Positivum akzeptiert.
Jericho, 17. Juni
Vom Chân el-Hadrûr fuhr ich gestern ab. Das Auto wand sich über die schöngebauten Serpentinen, immer tiefer und tiefer in die Täler hinein. Der alte Araber neben mir sang vor sich hin, bald unbekümmert laut, und bald wieder zu gedämpftem Summen abschwellend. In der Sprache dieser Lieder, die nicht froh und nicht melancholisch sind, in den kehligen oder nasalen, fast konsonantenlos ineinanderfließenden Lauten, liegt, selbstherrlicher noch als in der Sprache des Alltags, ein wunderbarer Ausdruck des wachen arabischen Wesens, das zwischen Gestern und Morgen, zwischen Tun und Denken, zwischen objektiver Realität und persönlicher Empfindung keine Trennung weiß. Und – ist nicht vielleicht darin der Grund zu suchen, warum die Araber den Europäern als „ungeistig“ gelten? Bedeutet doch der weitaus größeren Masse gebildeten Europäertums gerade die Trennung zwischen dem Stofflichen und dem Essentiellen die Voraussetzung der Geistigkeit überhaupt; erst wo diese Trennung vorgenommen ist, beginnen die Europäer (die allermeisten unter ihnen) den „Geist“ ernstzunehmen: sie identifizieren ihn mit „Denken“ und brauchen ihn, um sich von der „Materie“ freizumachen und die Souveränität zu erlangen. Der Araber hingegen, von breiten Instinkten geführt, maßlos dem Gegenwärtigen ergeben, souverän mit der Natur (und nicht gegen sie) – kennt diese Spaltung nicht. Um es zu wissen, muß man die Menschen sehen – und man sieht den „Geist“ in ihrem traumlosen Tag. Wie sie ihre Kleider tragen, trotz aller Gemessenheit jeder anders und so, wie es ihm gerade einfällt; wie zwei Männer in der Eisenbahn, barfuß und zerlumpt, in unglaublicher Zartheit und Vornehmheit voneinander Abschied nehmen; oder wie klar ihr Lachen ist; oder wie Lastträger ihr Leben lang unter gewaltigen Lasten keuchen – und dabei heitere und gute Menschen bleiben. – Natürlich: wenn du so die Araber sehen willst, betrachte nicht jene Minderheit, die „europäisch Gebildeten“ unter den Städtern Palästinas; sie sind größtenteils Christen und fast durchwegs dem Levantinismus verfallen, in einer ehrgeizigen Simili–Welt verloren; sie gehen allerdings nicht unter, aber „es“ geht ihnen unter – und darauf kommt es schließlich an. –
Wir haben die Talsohle erreicht, sind von den gelben Bergen, an deren Fuße wir dahinfahren, ganz eingeschlossen – und fallen auf einmal, ohne Übergang, in die Ebene: und die Ebene – weit und durchsonnt – bricht herein wie die plötzliche Stille nach vielen schweren Klängen.
Schnurgerade geht jetzt der Weg. Die Luft glüht reglos über der großen geraden Fläche, erfüllt den ganzen Körper mit schwer erträglicher Wärme. Das Auto läuft quer durch das weite, bergumschlossene Oval mit einer Öffnung im Norden und einer Öffnung im Süden: dort, wo der Jordan strömt. Mystische Berge –: vorne das hohe, blau, grau und weiß geäderte Gebirge des Ostjordanlandes, hinter uns in totaler Starre die Berge der judäischen Steinwüste, schroff wie eine uralt zerbröckelnde Mauer aus der Ebene emporwachsend.
... Jericho ist eine kleine verlorene Oase. Ein paar ärmliche Häuser schlafen in der Mittagshitze, einige Palmen breiten ihre Blätter aus.
18. Juni
Im Winter soll Jericho das sanfteste Klima von ganz Palästina haben: im Sommer ist es Glutbecken, eine gesammelte, gedrängte Hitze. Heute verzeichnet das Thermometer fünfzig Grad Celsius im Schatten – und nach den Worten des arabischen Schenkenwirts ist es „noch nicht der lästigste unter den Tagen des Jahres“.
Ich ging quer über die Ebene auf die judäischen Berge zu. An der Stelle, wo die kalte und üppige „Sultansquelle“ am Fuße der kahlen Wand hervorströmt, liegen im Umkreis von vielleicht zweihundert Quadratmetern spärliche, terrassenförmige Gemüsegärten. Sonst schlägt überall die staubweiße Landschaft, verbrannt und zerklüftet, blendend an die Augen. Manchmal nur scheinen die Wüstenberge rosenrot unter dem durchsichtigen, hellblauen Himmel ohne Wolken. Der steile Abhang vor mir ist in dunklerem Gestein gebuckelt; es wird wohl Basalt sein. Nach einem Augenblick des Betrachtens erkenne ich in den formlosen Blöcken allmählich Formen – unterscheide verwitterte Quader, Würfen und Kegel, zerbröckeltes, einst behauenes Gestein – Mauergestein. Das alte, vorbiblische Jericho. (Von dem biblischen haben die vielen Kriege keine Spur mehr übrig gelassen.) Die Basaltblöcke scheinen so uralt, so unendlich erstarrt zu sein, daß ihnen die Jahre nichts mehr anhaben können. Zwanzig, dreißig Stück eines längst zusammengebrochenen, fast nicht mehr erkennbaren Gemäuers –: und kleben doch so gewaltig in ihrer Unverletzbarkeit an der Wüstenwand, daß man, ohne es vorher gewußt zu haben, fühlt: Hier war etwas Riesengroßes ... war – riesengroß; denn es ist, heute, so riesenalt...
An den Ruinen vorbei führt ein Kamelweg ins Gebirge hinein. Zwei Reiter kommen mir entgegen, Beduinen, ein Mann und eine Frau auf Eseln. Wir begegnen uns hier in der Einsamkeit und sehen einander mißtrauisch an, heften die Blicke aneinander und wenden im Vorübergehen leicht den Kopf nacheinander hin. Aber erst wie sie vorbei sind sehe ich die Frau, die als zweite reitet, genauer an: eine schweigende und schmalgesichtige Frau in schwarzem Kleid, schwarzer Binde um die Stirn, mit langen, herabhängenden Zöpfen; Kinn und Unterlippe blau tätowiert. Sie sitzt seitwärts auf dem kleinen grauen Esel, wie Maria auf der Flucht nach Ägypten, und ihr Blick verrät mehr Neugierde als Mißtrauen. Sie ist schön.
Es–Salt (Transjordanien), 20. Juni
Den Weg von Jericho hierher macht das Auto in vier Stunden.
Gleich hinter Jericho wird die Landschaft wild und fremdartig. Harte sandige Bergkegel und -kuppen, die Straße zwischen dornigen Sträuchern kaum angedeutet, ein toller Zick-Zack-Weg durch Sand nach links und rechts. Wir begegnen einigen Reitern – es sind wohl arabische Kaufleute; und sie halten Karabiner schußbereit quer über dem Sattel. Man fühlt, wie hier die Welt des selbstsicheren Gesetzes allmählich entschwindet und in ein Wild-West kriegerischer Männlichkeit übergeht; und so beginnt das reine arabische Land, abseits vom Levantiner und europäischen Vergnügungsreisenden. – Das Gerüst einer Brücke wird sichtbar: El-Rôranije – oder, wie man sie heute offiziell nennt, „Allenby-Bridge“ (nach dem Namen des englischen Generals und Besiegers der Türken – und High Commissioner in Ägypten). Dies ist die Grenze zwischen Palästina und Transjordanien; ein vielgewundener, schlammiger Fluß, die Ufer von dichtem Röhricht umsäumt; starkströmendes Wasser. Hüben ein Gendarmenzelt und drüben eine hölzerne Baracke, das ist alles. Einige Augenblicke lang klappern die schlecht zusammengefügten Brückenbalken unter den Wagenreifen, dann schurren die Räder wieder in sandige Erde hinein – und man befindet sich im unabhängigen arabischen „Schark el Arden“ („Ostwärts vom Jordan“).
„Ein Beduinenland“. Und es ist schön, dieses Beduinenland. Unser Auto steigt den schmalen, unendlichen Serpentinenweg empor; die Straße ist hier lange nicht so gut wie die palästinensischen Wege, es geht über Geröll und gefährliche Biegungen, hinauf, rechts, links, gewaltsam und immer höher in die Berge hinein. Tief unten, in dem engen Taleinschnitt, der den Fahrweg begleitet, zieht sich rauschend ein Bach dahin, seine Ufer sind mit den üppigsten Rohrstauden und meilenlang mit blühenden Oleanderbüschen bedeckt: ein herrlicher Blütenbach neben dem Wasserbach. Wie fruchtbar diese Gegend in all ihrer Wildheit ist! Die vielen Rinder, die am Abhang neben der Straße weiden – manchmal in namenlosem Erstaunen dem heransausenden Auto stumm und großäugig entgegenblicken, dann, von der Signalpfeife aus nächster Nähe wütend angezischt, kehrt machen und mit schweren Sprüngen, ebenso entsetzt wie vorhin erstaunt, sich in das grüne Rohrdickicht hineinstürzen –: sie sind ein ungewohnter Anblick nach den dürren Hochflächen Judäas, auf denen nur Schafe und magere Ziegen ihr spärliches Futter finden. Dieses Land hier: es lebt; es atmet feucht und üppig. Doch liegen keine festen Ansiedlungen am Weg. Manchmal sehen wir breite schwarze Zelte – sie gehören viehzüchtenden Halbbeduinen: nicht mehr reine Nomaden und noch nicht ansässige Ackerbauer –; dieselben braun–weiß gestreiften Abbayen wie die der palästinensischen Beduinen. Jetzt wird es mir klar: die palästinensischen „Beduinen“, die man in den Städten sieht, sind wohl auch zum größten Teil nur Halbbeduinen – mit Ausnahme der Leute aus dem Süden, aus der Wüste um Bir-es-Seaba und aus dem Jordantal („El–Rôr“). Hier im Ostjordanland tragen die Halbbeduinen das Haar in vier kleine Zöpfchen geflochten und sprechen einen kehligen Dialekt. –
Jetzt aber, nach Stunden rascher Fahrt, ist Es-Salt da, die merkwürdige Stadt. Die Häuser aus gelblichem Stein sind übereinander an die Bergabhänge gebaut, wie wunderbar abgemessene Vogelnester, und recken sich kräftig und unsentimental, lebensgierig in die Sonne – und sind doch wie eine Traumstadt und wie vom Nebel der Unwirklichkeit umhüllt.
21. Juni
... In unberechenbaren Winkeln führen die Gassen hinauf und hinunter, immer zwischen hohen gelben Gebäuden hindurch. Um Tür und Fenster, rundbogig wie bei allen arabischen Bauten, ist hier ein weißer Rahmen gemalt; er hebt die Öffnung hervor und läßt so hinter der Fassade das Innere des Hauses fühlbar werden; so sind die Häuser nicht mehr nur Umfassung der Straße; man weiß sie beziehungsvoll untereinander, wie in die unwirklich–wirkliche Schicht des Traumes gehoben – obwohl die Sonne strahlend über den Mauerschatten liegt.
Ich gehe in das Haus meines arabischen Gastfreundes zurück, über den Hof voll Oleander und purpurnen Granatapfelbäumen.
22. Juni
Transjordanien –; eine junge Unabhängigkeit: Ende Mai d.J. erklärte Großbritannien sein Mandat über dieses Land für abgelaufen und übergab die Verwaltung Emir Abdallahs Regierung. Ein Auftakt zur arabischen Union, die in dem jüngsten Londoner Vertrag zwischen England und dem König Hussein feierlich festgelegt wurde. –
Es-Salt war während des Krieges, wie die meisten Städte und Menschen dieser Landstriche, eine englandfreundliche Stadt und hatte deshalb viel unter den Türken zu leiden. Nicht zum wenigsten hängt dies wohl mit der Tatsache zusammen, daß die Mehrzahl der Einwohner – obwohl sie in Tracht, Sprache und Sitten den Beduinen gleichen, von denen sie abstammen – Christen, und zwar griechisch-orthodoxe Christen sind (sie haben hier sogar einen eigenen Bischof und mehrere Klöster). Doch während der fünf Jahre seit Kriegsende ist die Englandfreundlichkeit merklich abgeflaut. Man ist den wirklichen Hintergründen der britischen Araberpoltik auf die Spur gekommen. Und nur die gewisse, auch in Palästina anzutreffende Reserve des christlichen Arabers dem mohammedanischen gegenüber ist es, die noch eine Art von Dankbarkeit für die Befreiung von der Türkenherrschaft in die Gefühle der Es-Salter münden läßt und sie zu „englandfreundlichen“ macht. – Wahrscheinlich ist darin der Grund zu suchen, warum nicht Es-Salt, das mit seinen zwanzigtausend Einwohnern die größte Stadt Transjordaniens ist, vom Emir Abdallah zur Hauptstadt erwählt wurde, sondern das viel kleinere Ammân: – neben dem praktischen Grund, daß Ammân an der Hedschas–Bahn liegt und Es-Salt nicht.
Ammân, 25. Juni
Es ist das Herz Transjordaniens: seine Hauptstadt neben den Ruinen von Philadelphia, der griechischen Kolonie des Ptolemäus Philadelphus, über dem vergessenen Staub des biblischen Rabbath Ammon. Die Stadt liegt in einer fruchtbaren Talsenkung und ist von zwei Bächen durchströmt. Überfluß an Wasser; es rauscht und rieselt in allen Gassen und verwandelt den steinigsten Boden in einen grünen Garten. Die Bergabhänge ringsum sind üppige Weiden, auf denen hunterte von Hedschinkamelen grasen, diese wundervollen Reittiere mit hohen schlanken Beinen und schmalem Rumpf.
Ammân ist klein, kaum mehr als 6 000 Einwohner; aber es wimmelt in den Gassen, jeder Mann scheint doppelt und dreifach vorhanden zu sein. Vor einem Laden in der Basarstraße sehe ich eine Ansammlung von Menschen – ist etwas geschehen? – , aber gleich dasselbe Bild vor der zweiten Tür und dasselbe beim Obsthändler und dasselbe beim Waffenhändler und beim Schuhmacher und am Brunnen – und natürlich auch vor den Cafés, die fast nur aus einem Exterieur bestehen. Eine heitere und bei allem Durcheinander ruhige Geselligkeit. – Es weht kühl von den Zypressen am Wasser.
Beduinen herrschen vor, die echten Beduinen der Steppe, denen man in Palästina kaum begegnet, freie Krieger und Kamelzüchter. Ihre Abbayen sind meist schwarz oder braun, manchmal aus durchsichtigen, Voile-ähnlichen Stoffen: darunter tragen sie ein helles, hemdartiges Kleid, das mit einem Ledergürtel zusammengehalten wird. Herrliche Pferde – nicht jene dünngliedrigen, überfeurigen Araber, die man in Europa sieht, sondern fesselstarke Tiere, die an Hunger, Durst und Mühe gewöhnt sind und auf jedem Terrain höchste Schnelligkeit entfalten können. (Rappen sind von allen Farben die seltensten; denn diese Farbe lieben die Beduinen nicht, sie scheint ihnen ein ungünstiges Vorzeichen für den Reiter zu bedeuten.) Jeder ist bewaffnet, hat den Dolch im Gürtel und das Gewehr auf dem Rücken (es sind fast ausnahmslos Mausergewehre aus dem Nachlaß der türkischen und deutschen Armee). Bewaffnet ist hier alle Welt und alle Welt in Bewegung, ein immerwährendes Hin und Her; Galoppieren von Beduinenpferden quer durch die Menge; ein tscherkessischer Ochsenkarren – denn die Stadt war ursprünglich von mohammedanischen Tscherkessen aus dem Kaukasus besiedelt – nimmt plötzlich die ganze Breite der Straße ein, – „tnejn kâhwe“ („zwei Kaffee“) brüllt der Caféjunge in die auf der anderen Straßenseite liegende Küche hinüber (die kleinen Tassen werden zwischen Pferdebeinen und blökenden Schafen hinüberjongliert), Soldaten des Emirs schlendern in ihren neuen Khakiuniformen durch den anbrechenden Abend, aus einem dämmrigen Winkel ertönt lautes Lachen, die farbigen Gewänder der Städter schlurren an den Augen vorbei.
In dieser Geschäftigkeit, die nichts von Nervosität hat, fühle ich mich geborgen. Ich sitze stundenlang vor einem Café. Stundenlang ist mein Nachbar ein einfacher älterer Mann, der mit ruhiger Inbrunst an seiner Nargileh saugt. Einmal kommt ein kleiner Knabe zu ihm, offenbar sein Sohn, spricht mit ihm einige Worte und legt seine Hand auf die Schulter des Alten; und der Alte antwortet ohne Herablassung, ganz als ob er mit einem Erwachsenen spräche. Es ist nicht etwa Freundschaftlichkeit, die diesem Sprechen Würde und gegenseitige Achtung verleiht – denn die Worte des Alten sind zänkisch und gelten alltäglichen Sorgen: aber so zankt man nur mit Gleichberechtigten, und der mißmutige Ton ist gleichzeitig Ehrung des Knaben.
27. Juni
Die letzten zwei Tage in diesem Städtchen haben mir die Qualität des arabischen Volkes nochmals und berauschend gezeigt, den Wert seines Anspruchs auf Freiheit, Wert für die Araber und nicht wenig für „uns in Europa“. Es gibt Dinge, die schon durch ihr bloßes Dasein beglückend wirken. Und hier diese Araber: ihre Mängel, wenn auch noch so zahlreich, sind den westlichen Mängeln nicht fremd; wozu sie betonen? (Das interessiert ja doch keinen Teufel!) Aber ihr Positives, ihr Einzigartiges schlägt wie ein warmes Feuer an den Sehenden empor – und wir haben im Westen viele Feuer nötig.
Klar, unverworren, immer ganz identisch mit den einfachen Dingen, die aus dem Augenblick geschehen sollen (und deshalb außerhalb von Tragik und Reue), untereinander gebunden nicht im überspannten Nationalismus, aber voll vertrauen auf alles, was arabisch ist, warm und mutig: greifbare Tugenden sind es, durch keinen moralischen Imperativ zerquält.
Flaubert sagte einmal von den Arabern, er liebe sie, weil sie den Stil primitiver Gemeinschaft darstellen. Es ist aber mehr als das. So wie sie hier sind, unter sich, nicht korrumpiert durch die Notwendigkeiten einer Anpassung an stärkere Minderheiten aus dem Westen, nicht gezwungen – wie die Besten von ihnen in den Ländern der Levante – die eigene Wesensart in Opposition zu bewahren: so wie sie hier sind, haben sie den Stil nicht nur primitiver, sondern vollendeter Gemeinschaft. Nicht restlos natürlich, nicht auf der sozialen Seite, die auch in den rein arabischen Ländern ihre bösen Schatten und Kanten birgt – wenn auch lange nicht in dem Maße wie anderswo (hier verhungert niemand); aber das Vollendete liegt in ihrem menschlichen Zueinander, in der Unmittelbarkeit ihres Beisammenseins: es ist ein „Du und Du“ nicht nur im Wort, sondern auch im Herzen.
Als größtes Minus wird noch fühlbar, daß dies eine Gemeinschaft nur von Männern ist; Frauen sind in ihrem Kreis nicht mitbegriffen, sie führen ein Leben für sich, hier noch unsichtbarer der Außenwelt als in den anderen mir bekannten Städten des Orients. Doch werden sie nicht mißachtet, – im Gegenteil, die Stellung des Mohammedaners der Frau gegenüber scheint mir eher der Notgriff eines Kindes zu sein, das das Wertvolle unterdrückt, um es nicht zu verlieren. (Daß aber das Wertvolle dadurch entwertet wird und allmählich in Behaglichkeitszauber verrinnt, ist wohl die schwerste Belastung des Islam).
El Makâr el Amiri, 28. Juni
Dieser Name bedeutet: Hauptquartier des Emirs; es ist ein Zeltlager in den Bergen oberhalb von Ammân. Teils infolge von Mangel an entsprechenden Baulichkeiten in der Stadt, teils aus Liebe zum Nomadenleben hat Emir Abdallah hier seine Wohnung aufgeschlagen. Etwa dreißig weiße Zelte stehen locker verstreut auf dem Hochplateau.
Ich suche den ersten Sekretär des Emirs auf, seinen „Premierminister“ Dr. Risa Taufik Bey, und gebe meine Empfehlungsbriefe ab; „âhlan w'sâhlan“ lautet der arabische Willkommensgruß, „Familie und Ebene“ – was so viel heißt wie: Sei hier in deiner Familie, dein Fuß gehe leicht wie über eine Ebene. – Risa Taufik ist ein Türke; er war Universitätsprofessor in Konstantinopel und drei Jahre lang, vor Kemal Pascha, türkischer Minister. Er erzählte mir, daß an den südlichen Grenzen von Transjordanien gegenwärtig so etwas wie „Krieg“ sei: die Beduinen aus dem Nedschd, die Wahabi, seien wieder einmal ins Land eingefallen. Diese Wahabi sind eine eigentümliche Sekte, nach dem Namen ihres Begründers – des Schech Wahab aus dem achtzehnten Jahrhundert – benannt; sie spielen innerhalb des Islam (wenn auch nicht quantitativ) ungefähr dieselbe Rolle wie der Protestantismus in der christlichen Welt, wenden sich gegen die übergroße Verehrung des Propheten – und sind erbitterte Feinde der „heiligen Familie“, deren Oberhaupt heute Hussein ist. Es gibt andauernd blutige Zwischenfälle an den Grenzen zwischen Hedschas und Nedschd. Manchmal machen sich diese fanatischen Krieger auf, reiten wochenlang auf Kamelen durch die Wüste – um dann in Transjordanien, das von Hussein beherrscht wird, einzufallen und so zur Demonstration ein paar Dörfer auszuplündern und in Brand zu stecken. Dann kommt es regelmäßig zu richtigen Schlachten zwischen ihnen und den dem Emir ergebenen transjordanischen Beduinenstämmen.... Nach der Ansicht von Risa Taufik Bey wären die religiösen Anschauungen der Wahabi an sich nicht von der Hand zu weisen und vielleicht von wohltätigem Einfluß auf die kulturelle Entwicklung des Islam, – aber diese Leute sind von einem großen Fanatismus getragen, der jede Annäherung sehr erschwert... was von „gewisser Seite“ (man kann hinter diesem diplomatischen Ausdruck England vermuten) nicht ungern gesehen wird, da auf diese Weise der arabischen Einigung ein weiterer Stein in den Weg gelegt wird. – Was Transjordanien selbst betrifft, so ist hier die Verwaltung schon an sich schwierig bei der Ausgedehntheit des Landes und einer dünnen Bevölkerung, die seit jeher gewohnt ist, sich das eigene Recht mit den eigenen Waffen zu erkämpfen. Die Beduinenstämme liegen meist in Fehden gegeneinander, aus irgendwelchen kleinen Anlässen – etwa Verletzung der Weidegebiete eines Stammen durch einen anderen und dergleichen – oder, was schlimmer ist, sind es Fehden unter dem Gesetz der Blutrache, die sich durch Jahrzehnte, zuweilen sogar durch Jahrhunderte fortzieht, von Vater auf Sohn vererbt, zu immer neuen Totschlägen und neuen Verbitterungen führt, wenn auch oft die alte Ursache schon längst in Vergessenheit geraten ist. Es gibt nur ein Mittel, eine Blutrache friedlich zu beenden: indem ein Jüngling aus dem Stamm und der Sippe des Ermordeten ein Mädchen aus dem Stamm und der Sippe des Mörders raubt und sie zu seiner Frau macht; das Blut der Hochzeitsnacht, das Blut aus dem Stamme des Mörders sühnt symbolisch das alte vergossene Blut. Manchmal, bei solchen jahrhundertealten Fehden, wird so ein Mädchenraub geradezu durch Vermittler arrangiert, um den „blutrachemüden“ Stämmen endlich Ruhe zu verschaffen. Das administrative Genie der Engländer wußte diese Möglichkeit systematisch auszubauen: im südlichen Palästina und besonders in der Wüste Bir-es-Seba, wo sich ganze Stämme unter dem Blutrachegesetz fast ausgerottet hatten, wurden englische „Blutrachekommissionen“ eingerichtet, die im Lande herumfahren, den symbolischen Mädchenraub und die Hochzeit zwischen feindlichen Stämmen vermitteln.
* * *
Jetzt ist schwarze Nacht, ich liege im Zelt von Aïd Effendi. Dieser fünfundzwanzigjährige Adjutant des Emirs ist wie eine Feder aus Stahl; einer jener willensbesessenen Männer, die mit eisernem Herzen einen Störenden umbringen werden, leidenschaftlich bis an den Rand ihres seins, kindlich eitel manchmal, – und manchmal von unglaublicher Kameradschaftlichkeit und Güte zu den Untergebenen, brutal und naiv zugleich, ein Raubtier mit starker Tatze und leuchtenden Augen.
Ich sah ihn heute morgen in einer erbitterten Auseinandersetzung mit einem Untergebenen, einem einfachen Soldaten: Aïd Effendi schlug dem Soldaten ins Gesicht, einmal, zweimal – und im nächsten Moment ergriff er ihn beim Kopf und küßte ihn auf beide Backen – vor einem Kreis von Offizieren, auf einem öffentlichen Platz in Ammân ... Und er hatte es nicht etwa getan, um dem Soldaten das soeben zugefügte Unrecht abzubitten (er empfand es sicher nicht als Unrecht), sondern nur aus leidenschaftlicher Sehnsucht, den anderen von seiner Widersetzlichkeit abzubringen, als eine Art von Beschwörung: er (der Soldat) möge sein eigenes Unrecht einsehen. (Und wenn auch die Methode viel zu wünschen übrig ließ –: ich verbeuge mich vor dieser ahnungslosen Reinheit, Aïd Effendi...)
... Schwarze Nacht draußen. Aïd Effendi wäscht sein Gesicht mit Eau de Cologne; Hunde bellen in der dunklen Einsamkeit, von den letzten Zelten her wiehert ein Pferd.
29. Juni
Fünf Uhr morgens. Das Sonnenlicht schwimmt graugelb, schmelzend über den Zelten – die Zelte liegen in luftiger Selbständigkeit auseinander, so daß das Auge sie niemals alle auf einmal umfaßt und immer einen weiten Raum durchmessen muß. Es ist schon fast wie die freie Steppe.
Ich bin etwas unruhig und irritiert, in einer sonderbaren Art von Irritiertheit, die sich an die fremden Dinge nicht klammern kann; – und wir sind so gewöhnt, uns an die Dinge zu klammern. Weil wir sie als feindselig und gefährlich empfinden, vielleicht; weil wir sie zu bewältigen suchen – damit sie uns nicht überrennen; weil wir immer distanziert und immer auf der Hut sind: auf der Hut auch vor unserer Unruhe. Wir, wir Dummen suchen stets von der Unruhe loszukommen und sie zu „bemeistern“ – und doch ist in unserem verbauten, dem Paradies so weit entrückten Dasein fast nur noch sie imstande, uns an die erlesensten Dinge zu bringen: Worte, Gedanken, Deutungen, die rasch und flüchtig an die Oberfläche unseres Bewußtseins schlagen und sich nur so offenbaren: in Qual und Unrast.
Unten, wo die Lagerwachen ihre Zelte haben, satteln zwei Beduinen ihre Pferde. Es ist ein Schech aus der Gegend von Maan (im südlichen Transjordanien) und sein zwanzigjähriger Sohn. Sie waren hierher gekommen, um irgendwelche Stammeszwistigkeiten dem Emir vorzubringen. Jetzt wollen sie heimreiten. Sie sprechen wenig miteinander, eine warme Vertrautheit neigt sich über ihren Ernst. Ihre sehnigen braunen Hände machen sich an den Sattelgurten zu schaffen – und berühren mich wie ein Abbild dieses wundervoll einfachen Lebens, das in gerader Linie von der Geburt bis zum Tode führt. Überall die gerade Linie des Daseins. das ist ihre Unzerbrechlichkeit, das ist ihre Einheit, – und macht sie sie nicht viel mehr zur „Nation“ als eine noch so starke Gemeinsamkeit hoher Kultur? Nicht der Islam ist, wie man gemeinhin annimmt, das treibende Agens dieser Einheit; denn so wie er geschlossen und unverbrüchlich dem Blute dieser Menschen gehört, ist er nur Ausdruck und Form ihres eigenen Spannungszustandes.
* * *
Vor dem Zelt des Emirs weht die Flagge des Scherifen: schwarze, rote und grüne Streifen gehen sternförmig von einem länglichen Viereck in die Mitte nach den Rändern hin. Das Zelt ist größer als alle anderen und besteht aus mehreren Räumen. Risa Taufik Bey, immer gemessen und der Grandseigneur, zeigt mit den Schlafraum des Emirs. Prunk und Einfachheit zugleich. Zwei schwarze Bärenfelle in der Ecke, ein Gebetsteppich, davor ein paar kostbare Kamelsättel mit silbernen Beschlägen (sie werden als Schemel benutzt); in einer Ecke ein europäischer Toilettetisch, Parfüms und silbernes Zeug; und an den Wänden persische Teppiche in zarten graurose Tönen. Ein schwarzer Diener, wie ein Maharadscha ganz in Brokat gehüllt, führt uns in den schlichten Empfangsraum, dann kommt der Emir – ein etwa vierzigjähriger mittelgroßer Mann mit blondem Bart – leise auf schwarzen, kleinen Lackschuhen herein, in rauschender, weißer Seide. –„Ahlan w'sâhlan“ – der Türvorhang fällt zu, und wir bleiben in einem wohltuenden Dämmerlicht. Risa Taufik macht den Dolmetsch, da ich meinem Arabisch doch nicht allzuviel zutraue; der Emir spricht nur Arabisch und Türkisch. Er hat sein halbes Leben in Konstantinopel verbracht (Jahre hindurch als Abgeordneter von Hedschas); jetzt scheint er sich als Beduinenfürst wohl zu fühlen.
Wir sprechen wieder von den Schwierigkeiten der Verwaltung in diesem Lande, wo jeder sein eigener Herr in Waffen ist. Doch meint der Emir – „die Araber sind ein vernünftiges Element; sie werden, wenn es darauf ankommt, ohne weiteres verstehen, daß nur die Besinnung auf die eigene Gemeinsamkeit sie von fremden Machttendenzen emanzipieren kann. Die Fehden der einzelnen Stämme untereinander sind wie kleine örtliche Gewitter, die vor dem Kommen eines großen Orkans sich sofort legen und ineinanderfließen würden...“
Ich aber denke mir: Ihr seid zeitlos, ihr seid aus dem Lauf der „Weltgeschichte“ herausgesprungen, ihr könnt noch eure herben Spiele spielen, ihr seid die Gegenwärtigen – bis der Wille in euch fährt und euch zu Zukünftigen macht. Dann aber wird eure Kraft rein und gesammelt sein, – da der Stachel der Zukunft nicht eure Gegenwart jagt, sondern jene schrittweise zur Gegenwart wird.
Ich frage den Emir über seine persönliche Meinung bezüglich der Arabischen Union, an deren Realisierung sein Vater (König Hussein) seit fast einem Jahrzehnt arbeitet. Emir Abdallah antwortet:
„Wenn ich Ihnen meine persönliche Meinung, meinen persönlichen Wunsch darlegen soll, so wäre es dies: die Arabische Union müßte nicht nur ein lockeres Gefüge aus einzelnen Staaten sein, sondern ein einheitliches Ganzes, eine zentrale Regierung, während die Länder nur eine innere Autonomie behalten... Daß die Schwierigkeiten sehr groß sind, wollen wir keinen Augenblick verkennen. Da sind vor allem, in Arabien, die starken Gegensätze zwischen den zwei mächtigsten Staaten, Hedschas und Nedschd. Dann ist Syrien da, dessen arabische Intelligenz vorwiegend christlich ist (von der im Libanon, die fast ausschließlich christlich ist, schon gar nicht zu reden); diese christlichen Araber wehren sich gegen eine Konföderation, in der sie ihre bisherige politische Vormachtstellung aufgeben und zur Minorität werden müßten. Dann: Palästina, dessen Situation Ihnen bereits bekannt sein dürfte. Aber eine Bestrebung wie die unsere, die auf die Freiheit und Selbständigkeit aller Araber ausgeht, kann natürlich nicht dieses oder jenes Land ausschließen, ohne sich durch ein rettungsloses Kompromiß selbst bis ins Innerste hinein zu kompromittieren. Die Araber aller Länder würden sich sehr bald untereinander verständigen – aber der Westen gibt sich der falschen Vorstellung hin, daß eine solche Verständigung gegen seine wesentlichen Interessen ginge... und sieht sie unter dem Mantel wohlwollender Förderung (die ja an sich gar nicht nötig wäre) im Grunde zu hintertreiben. – Aber: es wird trotz allem gelingen, da der Gedanke einer arabischen Einigung keine politische Konstruktion ist, sondern aus den Seelen vieler Millionen gewachsen. Er ist aus der Natur gewachsen, wie ein Baum wächst, wie ein Wasser fließt... Der Orient (und ich glaube, nicht nur der arabische) wird auf die Dauer keine unnatürliche, d.h. vom Westen kommende Politik ertragen: er ist aus der gutwilligen Inferiorität herausgewachsen. Der Mangel an diesem Wissen, dieser Orientiertheit über unsere inneren Verhältnisse und Voraussetzungen ist in Europa fast durchgängig. Und er wird schließlich die Völker Europas schwere Opfer an Zeit, Menschen und Geld kosten – und wofür? Denn bleiben wird doch nur das Natürliche. Wir Araber sind weit davon entfernt, an unsere nationale Unfehlbarkeit zu glauben, aber wir wollen unsere Fehler, die notwendig sind, allein begehen, und aus ihnen auf unsere eigene Weise klug werden.“
Etwas Kleines huschte durch die Dämmerung: Talâl, der zwölfjährige Emir Talâl. (Du bist nicht sehr gebildet, Talâl, nicht im mindesten; du kannst ein wenig Koran lesen; deine Sprachkenntnisse beschränken sich auf ein „Good morning, Sir“; – aber in deinen schmalen Gliedern, in deinem jähen Sprung aufs Pferd, in deinen leuchtenden Augen und deinem lachenden Mund sehe ich sie wieder: die gerade Linie des Daseins.)
Ammân, 1. Juli
Auch hier, wie im benachbarten Palästina, ewiger Geldmangel. Aber man stöhnt hier nicht und wartet nicht, wie drüben, auf Dinge, die kommen sollen und niemals kommen. Was über die 200 000 Pfund (von denen 80 000 englische Subventionen sind) jährlicher Einkünfte hinausgeht – und hinausgehen muß –, wird mit tausend Finessen und ... Handgreiflichkeiten erborgt, auf Kredit genommen, vom reicheren Hedschas und vom Irak erbeten. Man jammert nicht. Lebt auch nicht „in den Tag hinein“. Sondern arbeitet, im Lauten oder Stillen, für sich oder für alle, – je nach der Beschaffenheit der Geister. (So wurden in dem „wilden Beduinenland“ in den letzten zwei Jahren rund fünfzig sechsklassige Sekundärschulen errichtet und mit modernen Lehrmitteln versehen.)
Diese Instinktmenschen können wirklich vernunftmäßig leben, weil ihre Spannkraft unproblematisch und nicht an die zahllosen „Berücksichtigungen“ gebunden ist, die der Intellekt des westlichen Menschen gebiert und die seine Welt, scheinbar erweiternd, bis zur Atemnot verengen. (Die „Berücksichtigungen“: sie sind die Not des westlichen Menschen. Dieser Mensch hat zwischen sich und die Dinge einen dicken Trennungsstrich gezogen, seine persönliche Einstellung zu ihnen fixiert – und daraus entspringt dann seine ewige Angst und Sorge um die „Bewältigung“ der Dinge.)
3. Juli
Wie glücklich (oder wie selbstverständlich) es sich für die Araber fügt, daß die europäischen Ströme jetzt am Ende ihrer befruchtenden – und deshalb vergewaltigenden – Kraft sind! Was heute noch an praktischer Vergewaltigung in der Richtung von Westen nach Osten geschieht, trägt diesen Charakter so deutlich auf der Stirn, daß es seine innere Gefährlichkeit einbüßt. Dieser Art von gewaltsamer Beeinflussung zu unterliegen, ist nicht korrumpierend und nicht hoffnungslos; denn hier gilt in Wahrheit das Wort: „Es ist nur eine Frage der Zeit.“ Wäre Europa heute nur um ein Jahrhundert jünger, und die Araber, wie jetzt, eben erst im Begriff, aus ihrem Dornröschenschlaf aufzuerstehen –: wie leicht wären sie, wenn nicht durch offene Gewalt, so doch durch die „friedliche Kolonisation“ überrumpelt und hoffnungslos umwickelt worden! Da es aber nicht so ist und die Entwicklung wie mit ineinandergreifenden Zahnrädern arbeitet, ist die Situation wesentlich einfacher. Für das westliche Europa scheint es in dieser Richtung vorbei zu sein, – der Orient aber hat noch eine Weile Zeit. In dieser Weile seines Erwachens – das ist Kemal Paschas Türkei, das ist Ägypten um Zaghlul Pascha – steht für den islamischen Osten so ziemlich alles auf dem Spiel: in diesem Augenblick hat er nicht so sehr mit den äußeren Mächten zu rechnen wie mit seiner inneren Kompromißlosigkeit.
5. Juli
England hat zwei Hände, eine rechte und und eine linke, die voneinander nichts wissen dürfen: das Foreign Office und das Colonial Office. Während das Foreign Office mit Hussein und seinem Hause Freundschaftsverträge abschließt – liefert das Colonial Office seinem prinzipiellen Feind, dem Emir Ibn aud vom Nedschd, gegen gewisse lokale Garantien und Sicherheiten Waffen und Kriegsmaterial, welche sodann gegen Hedschas und zeitweise (wie zum Beispiel jetzt) auch gegen Transjordanien verwendet wird... Allerdings hat dieser Zustand ein Gegenstück in der Tatsache, daß König Hussein auf Grund der alten den Arabern gemachten Versprechungen von England eine jährliche, ziemlich bedeutende Subvention erhält – und daß er von seinen Einkünften (zu denen ja auch diese von englischen Steuerzahlern bestrittene Subvention gehört) regelmäßige Zuschüsse der arabischen Bewegung in Palästina, also einer gegen England gerichteten Oppositionsbewegung, zur Verfügung stellt. Es ist natürlich nicht anzunehmen, daß die englische Regierung in diese Vorgänge keinen Einblick hat. Man könnte viel eher glauben, es läge wirklich in Englands uneingestandenem Interesse, in Palästina eine starke arabische Bewegung bestehen zu lassen und auf diese Weise den Zionisten nicht allzu bedeutende Konzessionen machen zu müssen. Ferner kann auch die zwischen den beiden Lagern – Zionisten und Arabern – ewig gespannte Situation die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung einer Truppenmacht in Palästina vor dem Londoner Parlament rechtfertigen...
Man muß indes immer wieder bei der Beurteilung der englischen Taktik in Palästina die Lage im benachbarten Ägypten in Betracht ziehen. Sollte drüben die nationale Aktion mehr und mehr durchdringen und England zu wesentlichen Konzessionen und Rückzügen zwingen (was immerhin schon in der nächsten Zukunft möglich ist), so wird dieses mit allen Mitteln bestrebt sein, östlich vom Suez–Kanal, also in Palästina, die eigene Position zu stärken: in diesem Falle dürfte die zionistisch orientierte Politik intensiver als bisher vertreten werden, und dies natürlich auf Kosten der – heute bewußt geduldeten – palästinensischen Araber–Bewegung. Denn wenn auch ein Bündnis mit einer Arabischen Union für Großbritannien in der Zukunft vielleicht wertvoll sein könnte, so stellt es doch einen zu unsicheren Faktor dar, um darauf ein so vitales englisches Bedürfnis wie den Schutz des Suez–Kanals zu gründen.
8. Juli
Am Nachmittag fuhren zwei Lastautos durch die Basarstraße von Ammân. Im ersten Auto saßen einige Soldaten des Emirs, mit dem Gewehr in der Hand und verstaubt. Auf dem Boden des zweiten kauerten (inmitten von Soldaten) zehn oder zwölf Beduinen; sie sahen wild, fremdartig und wie von weither gekommen aus – und waren mit Stricken aneinandergefesselt; auch über ihnen lag, und mehr noch als über den Soldaten, nebelgrauer Staub. Als das Auto langsam durch das übliche Straßengedränge rollte, sah man ihren schwarzen Augen dumpf und fragend über die vielen Köpfe und Gesichter hinweggleiten, als suchten sie etwas, in kaum merklicher Neugierde, und wären in ihren Seelen leise erstaunt, es nirgends zu finden.
„Mörder.“ – Irgendwo an der Hedschasbahn, weit draußen in der Steppe waren sechs Arbeiter, die auf einer Draisine die Strecke befuhren, von vierzehn auf Kamelen berittenen Beduinen überfallen und vier von ihnen getötet worden. Zwei entkamen, liefen die ganze Nacht und den darauffolgenden Tag hindurch, gelangten in das Lager des Emirs Abdallah und trugen ihm ihr Erlebnis vor. Nach bestimmten Einzelheiten der Kleidung und des Sattelzeugs konnten die beiden Flüchtlinge die Stammeszugehörigkeit der Räuber feststellen; außerdem hatten sie sich die Nummern der Kamele gemerkt – denn die Beduinen haben die Gewohnheit, alle Kamele innerhalb eines Stammes durch eingebrannte Nummern zu kennzeichnen, um sie vor Verwechslungen und Diebstahl zu schützen. So war die Identität der Mörder gegeben. Der Emir schickte eine Abteilung der ihm besonders ergebenen Beni-Sacher-Beduinen aus, die die vierzehn Mörder durch fingierte Botschaften aus dem Lager hervorlockte und nach kurzem Kampf gefangen nahm – bis auf zwei; einer fiel, einer entrann.
Jetzt bringt man sie hierher, damit der Emir Gericht über sie halte. Er wird sicherlich streng sein – es liegt ihm wohl daran, den Engländern zu beweisen, daß auch unter arabischer Verwaltung und Gerichtsbarkeit in Transjordanien Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten werden können. –
Über den zwölf Beduinen im Lastauto liegt jene grauenvolle Verlassenheit, wie sie Delinquenten aller Völker und Zeiten im gleichen Maße beschieden ist...
9. Juli
Die zwölf Beduinen wurden heute früh vom Emir zum Tode verurteilt und in den Bergen füsiliert. –
12. Juli
Noch einmal am Abend die Gassen von Ammân. Noch einmal, rasch, in den Strom eines gewichtslosen Lebens Einblick nehmen. – Ich muß an meine ersten Tage im Orient denken, an die Zeit, die fast ein Jahr zurückliegt. Man war damals – in Jerusalem – von den vielen neuen Dingen bedrängt, die die Schaulust aufreizten und irritierten ... man war herumgeworfen von der Menge neuer Aspekte, in denen man sich nicht zurechtfand. Es hatte Monate gedauert, bis man sich zurechtfand und das innere Gesetz dieser fremden Welt zu empfinden und auf eine allgemein Linie zurückzuführen begann. – Und auch hier in Transjordanien: müßte man nicht unter diesen Menschen lange leben, um ihren Daseinsrhythmus voll zu erfassen? So aber, in diesen kurzen Tagen, kann man höchstens von einem leichten Hauch gestreift und ergriffen werden. Sich im Wesentlichsten ergreifen zu lassen – das ist so, wie wenn man selbst und aktiv nach den Lebensdingen greift. (Wer bringt die große Freiheit und Aufrichtigkeit auf, sich im Wesentlichsten ergreifen zu lassen? Auch davon kriegen wir meist nur einen Zipfel zu fassen. Aber das Leben ist ein weiter Raum, und wir haben Platz und Zeit genug, nach dem großen Rest zu suchen.)
In der Hauptstraße wenig Laternen und viel Schatten. In der sommerlichen Nacht atmet durch alles Menschengewühl hindurch ein einziger großer Körper, der Sammelkörper der arabischen welt, an jedem Punkte verschieden und doch von einer köstlichen Gleichmäßigkeit.
El Makâr el Amiri, 13. Juli
Ich bin hergekommen, um Abschied zu nehmen. Jetzt warte ich in dem großen Staatszelt auf Aïd Effendi, mit dem zusammen ich nach der anderen Seite des Jordan zurückkehren werde. Bis vor einem Augenblick hatte ich Gesellschaft: die Schechs und Ältesten eines der großen Beduinenstämme aus dem Osten. Jetzt sind sie alle weg, haben sich auf die Pferde gesetzt und sind davongeritten. Von ihrem Wesen ist noch dieses ganze Zelt erfüllt, es sitzt auf den Stühlen und klingt von den Zeltwänden wider. Es war eine Gesellschaft von Männern, die ernst sind, wissen, was sie tun, sich selbst und die Verhältnisse, in denen sich sich befinden, genau kennen. Ihre Welt ist das Erfüllbare, Nahe, Gegebene. – Sie berieten sich über Stammesangelegenheiten: fünf ältere Männer – darunter ein weißbärtiger Greis – und ein achtzehnjähriger Jüngling. Und so, wie sie alle in menschlichem Respekt voreinander saßen, hörten die Alten auch auf die Worte des Jungen, wenn er bescheiden ins Gespräch eingriff, mit derselben Aufmerksamkeit und Stille, wie sie auf die Worte des Greises hörten.
Wadi el Kelt, 17. Juli
... Und die Rückkehr aus Transjordanien mündet, hier in Judäa, wie in eine Schale: Wadi el Kelt. Von der Steinwüste gut verborgen, in noch tieferer Stille abseits von der stillen Landstraße – bricht aus den Felsen eine Quelle. Ein Wasserfall. Ein Bach. Strömt durch die Schlucht. Und mitten in den Wüstenbergen, inmitten von Sand, Basalt und Schiefer, im untersten Grund: wächst die Oase auf. Sie ist grün in allen Tönen, sie ist wunderbar über alle Maßen.
Dattelpalmen, Feigenbäume, Zitronen, Weinreben, Ginster, Riesenlattich, Oleander, gelbweißes Haus mit flachem Dach, Ziegenherde am Wasser (während sich hoch oben am Bergabhang hundert Kamelrücken wiegen – auch sie kommen von der Tränke), Sandberg mit zart gerillten Hängen, Basaltberg mit schwarzem Geröll, – und unten, immer wieder, die grüne tropische Üppigkeit.
Ich schlief auf dem Dach der Mühle. Als ich um drei Uhr morgens aufwachte (die Hunde hatten die ganze Nacht wie toll nach Schakalen gejagt), war von den Bergen nur eine dämmrige Silhouette sichtbar: von links nach rechts in leichtem Schwung hinunter, mit dem Tat verschwimmend, dann langsam rechts wie ein Kamelrücken ansteigend, hoch, bis auf den spitzen Gipfel eines einsamen Berges hinauf. Vor dieser schwarzbraunen Kulisse stand scharf und feierlich der Umriß einer Palme, und darunter, auf der Gartenmauer, schlief eine schwarze Ziege.
Haifa, 22. Juli
Ich fuhr mit der Eisenbahn von Jerusalem über Jaffa hierher. Sommerhitze, volle Waggons (nur aus je einem Abteil bestehend). Es waren viele jüdische Kolonisten da, meist junge Menschen, aber in weitaus großer Mehrzahl Araber. Sie unterhielten sich, wie gewöhnlich, geräuschvoll und doch unaufdringlich. sie gaben mir Melonenscheiben zu essen, so, als ob sie wüßten, daß ich ihnen gut gesinnt bin, – und in der eisernen Hitze der langen Fahrt erschien mir zum ersten mal die fade, blaßrote Kühle dieser Frucht begehrenswert, und die wichtige Rolle, die sie hierzulande im Sommer spielt, verständlich. Als sie wahrnahmen, daß meine Zigaretten zu Ende gegangen waren, boten sie mir von allen Seiten von den ihren an. Einmal hielten wir an einer kleinen Station. Ein Araber aus dem entgegengesetzten Ende des Waggons (er mochte wohl ein kleiner Kaufmann sein und war europäisch gekleidet) trat an mein offenes Fenster, um von einem der hausierenden Knaben dort unten irgend etwas zu kaufen; er kaufte einen Kuchen, drehte sich um, wollte an seinen Platz zurückgehen – erblickte mich (wir hatten uns die ganze Zeit vorher niemals gesehen) – und brach in wortloser Selbstverständlichkeit, wie von einem guten Dämon plötzlich geleitet, seinen Kuchen mitten entzwei und bot mir einen „tfâddal“ („bitte“) die Hälfte – . Ich aber glaube jetzt: wenn von meinem ganzen Hiersein weder für mich noch für andere eine Spur übrig bleiben sollte, so hat doch darin, daß ein Fremder in einem Fremden den Freund erkannte, seinen Kuchen brach und jenem die Hälfte reichte, die Aufkunft einer unbelasteten Menschlichkeit einen stillen und visionären Schritt getan.
Nahalal, 24. Juli
Der Marsch nach Damaskus war eine entschiedene Sache. Man mußte nach Damaskus gehen. Ich mußte nach Damaskus gehen, obwohl die Schwierigkeiten aufwuchsen, die französischen Behörden dem „feindlichen Ausländer“ keine Einreiseerlaubnis nach Syrien geben wollten und mein Geld fast zu Ende ist. Ich kann erst in zwei bis drei Wochen neues Geld aus Europa erwarten. Zurückgehen nach Jerusalem? (Ich könnte nicht einmal diese Reise bezahlen und müßte mich im Auto ans Haus meines Freundes vorfahren lassen.) In Jerusalem warten? Warten ist immer eine böse Sache. Der Weg nach Damaskus aber ist ein unsicheres Unternehmen; und solche schwankenden Dinge wollen ein Entweder-Oder beantwortet wissen; entweder man macht sie, sofort, in geradliniger Fortführung – oder sie entgleiten den Händen.
So bin ich, mitten aus dem Zweifel ins Klare herausgejagt, plötzlich von Haifa aufgebrochen, sechs Stunden marschiert und jetzt hier in Nahalal angekommen. In Palästina und Syrien braucht man kein Geld, wenn man zu Fuß reist; überall stehen einem die arabischen Dörfer und die jüdischen Kolonistenhäuser gastfreundlich offen. – Nahalal ist eine neue jüdische Kolonie, von jungen Menschen begründet, und soll eine Musterkolonie werden. Kreisförmig angelegt. Jeder Ansiedler bekommt nur 100 Dunam Land zugewiesen, d.h. so viel, wie er selbst, mit Hilfe seiner Familie, bearbeiten kann. Man will in Durchführung dieses Prinzips die Bildung eines Großbauerntums unmöglich machen, das Boden über seine eigenen produzierenden Kräfte ansammelt, arabische Arbeiter aufnimmt – weil sie billiger sind als jüdische – und so den Grund zu einer neuen eigennützigen Besitzerschicht legt. – Die Arbeiter der Kolonie sind russische und polnische Juden, herzlich, warm und kameradschaftlich; ich mag unter ihnen sein. Wenn sie für Augenblicke das ein wenig forcierte „neue Leben“ unbetont lassen, ist innerlich hier nichts anderes da, als was ich schon längst, in meiner Kindheit, als das Leben der Juden in den Dörfern und Kleinstädten des europäischen Ostens kannte und liebte.
Von Nahalal aus läuft ein Pfad durch braunes Ackerland auf die Hügelwellen zu, zwischen denen die Straße nach Tiberias liegt. In den äußersten Gemüsegärten der Kolonie sehe ich Frauen in großen Strohhüten über die Beete geneigt. Eine abendliche Sonne.
Er-Rêne, 25. Juli
Ich ging über eine hügelige Landstraße, rechts unten lag die Ebene Esdrelon, in Licht– und Schattenfetzen wie ein Achat gezeichnet; dann hatte ich Nazareth erreicht und verlassen (langweiligste aller heiligen Stätten!), und kam in dieses arabische Dorf unter Pfefferbäumen und Zypressen. Am Tor des ersten Hauses saßen drei oder vier Männer und Frauen. Ich hielt an, fragte, ob dies Er-Rêne sei, wollte nach einen „Ja“ weitergehen – da rief mir eine der Frauen nach: „Herr, willst du dich nicht erfrischen?“ – und streckte mir ungebeten, erratend, einen Krug kalten Wassers entgegen.
„Herr, willst du dich nicht erfrischen?“ ...
* * *
Rechts von der Straße, im Südosten verschwimmend, liegt das Dorf Endor, wo Saul von dem Weib, das den Wahrsagergeist hatte, die Verkündigung seines nahen Todes hörte. Über Endor hinaus in gerader Blicklinie fortlaufend (aber von hier nicht sichtbar), das Gebirge Gilboa, Sauls Tod und die Erfüllung der Botschaft.
– Saul aber war sein Leben lang der Mann, der von den letzten Dingen der Gnade, von den harten und süßen Dingen der Gnade weiß und doch nicht zu ihnen kommen kann, weil sein schwingender Mut nicht die Spannung jener mikrokosmischen Geduld hat, die in innerster Stille, durch allen Lärm des eigenen Tuns hindurch, von Stufe zu Stufe vorwärtsgeht und in der schwebenden Sekunde das Ruhende, den restlosen, nackten Gehalt bloßlegt. Und so wie das Weltbild nur in der Vollendung und Fortführung der gestillten Sekunden seine Wahrheit und Wirklichkeit findet – so war es dem Saul verschlossen, sich mit den Dingen zusammenzulegen und ihren Strom, ihre Reibung und ihre Erlösung mit dem eigenen Sein zu verbinden. So nahe die Welt, so greifbar: aber Saul war instinktfern und nicht in der Rundheit des Daseins gebunden, er griff nicht die Welt, sondern nur die abgerissenen Augenblicke seiner Freude und seines Leids. So mußte er David, den er liebte, zum Feinde werden. Denn in David war Besitz, was in Saul Mangel war: die Bescheidenheit, die Geduld, die Stille, der Zusammenhang. Um Saul drehte sich die Welt im Kreise: er war nicht begnadet und konnte sich nicht zur Gnade überwinden. Denn Gnade ist kein Ausnahmezustand, Gnade ist Norm: sie ist das wirkliche Leben des Menschen als Ding unter Dingen ... Aber Saul, wie die Meisten, unterschritt die Norm und bestand nicht die Prüfung. – Norm? Was ist Norm? Nicht die „Idee“ in Platos Sinne; sondern die Ausfüllung der eigenen Lebensgrenzen, die Anpassung an das eigene Sein. Die Norm variiert mit dem Individuum. Goethe erfüllte seine Norm, die Araber erfüllen, als Volk, ihre Norm. Saul hatte ein großes Maß, ein königliches Maß – aber nicht die Kraft, es bis an seine Grenzen auszufüllen.
Lubije, 27. Juli
Die Farbe des Judäischen Berglandes ist ein Rostbraun, mit tiefen bläulichen, grauen und violetten Schatten untermischt: hier in Galiläa weisen die Hügel ein merkwürdiges, wahrscheinlich durch die Trockenheit des Sommers verursachtes Gelbbraun auf; es wirkt hell und heiter wie in Europa Heidelandschaften an sonnigen Tagen. Je weiter man nach Norden vordringt, desto mehr Wasser gibt es. Die Zisternen verlieren sich allmählich und an ihre Stelle treten Quellen und Bäche. Die Vegetation wird etwas reicher. Gruppenweise sieht man dichtbelaubte Olivenbäume und hohe, dunkle Zypressen; zwischen den Steinen an den unbebauten Hügelhängen stehen vertrocknete Sommerblumen; die Felder sind schon längst abgemäht und nur noch vereinzelt wird in der Nähe der Dörfer Getreide gedroschen.
Es ist sehr heiß. Ich bin immer allein; manchmal nur gehe ich ein Stück Wegs mit Kameltreibern oder Eseltreibern, freue mich eine Weile an der einfache Wärme ihres Wesens; wir trinken Wasser aus meiner Feldflasche, rauchen eine Zigarette miteinander – dann gehe ich wieder allein vorwärts, da der langsame Schritt solcher Karawanen mir den Weg in die Länge dehnt. Oder ich setze mich zum Ausruhen neben einen der Chausseearbeiter, die man hier und da sieht, wir vertreiben uns die Zeit durch Gespräch und dann strecke ich mich am Wegrand im Schatten seines Esels aus und schlafe. Der Esel ist angepflockt und kaut die dürren Gräser an meinem Ohr und ich höre bis in den Schlaf hinein das mahlende Geräusch seiner Kiefer...
Tiberias, 29. Juli
Auf dem Wege von Haifa hierher habe ich einige jüdische Siedlungen besucht, und zwar nur diejenigen, die ich auf meiner Reise im Dezember v. J. noch nicht gesehen hatte. Zwei Kategorien lassen sich leicht unterscheiden: die alten Kolonien, meist der JCA (Jewish Colonisation Association) gehörend, mit einem europäisch–verbauerten, in Sorgen versunkenen, in der Alltäglichkeit persönlichen Verdienens verlorenen Judentum, – das so gut wie ausschließlich arabische (billigere) Arbeiter beschäftigt, – und dann die neueren Siedlungen (hauptsächlich vom Jüdischen Nationalfonds begründet), mit jungen Arbeitskräften und junger Begeisterung – zum größten Teil auf Kollektivwirtschaft aufgebaut. Kennzeichnend für den Geist, der in den alten Kolonien herrscht, ist das Erlebnis, das ich vor einigen Tagen in Sedschera (ungefähr in der Mitte des Weges von Nazareth nach Tiberias) hatte. Ich kam am späten Nachmittag dorthin, müde und mit wundgelaufenen Füßen. Ich sprach an dem ersten großen Gehöft um Essen und Nachtlager an; beides wurde gastfreundlich gewährt; aber der Mann, dem das Gehöft gehörte (er war ein Jude aus Rumänien und bereits seit dreißig Jahren im Lande), hielt mich wohl für einen der neuen Einwanderer – da um diese Jahreszeit keine Touristen nach Palästina kommen – und sagte im Ton vorwurfsvollen Erstaunens: „Ich begreife nicht, warum jetzt alle jungen Leute nach Palästina kommen?! Warum wollt ihr euch hier nutzlos quälen, so wie wir? Warum geht ihr nicht nach Amerika?“ – Im Gegensatz zu diesen alten, zermürbten und verbitterten Kolonisten stehen die jungen. Diese Jungen, unter denen die russischen und polnischen Juden das weitaus wertvollste Element darstellen, leben zum Teil in Gruppengemeinschaften, „Kwuzoth,“ führen die Devise: „Jüdische Kolonisation mit jüdischen Arbeitskräften, keine Arbeiterausbeutung“ –, trocknen Sümpfe, arbeiten tapfer, und sind trotz allem, wie überhaupt sämtliche jüdischen Kolonien (mit Ausnahme von ein paar Paradeunternehmungen bei Jaffa), verlorene Tropfen im heißen palästinensischen Land, letzten Endes doch immer auf die Hilfe von außen angewiesen. – Und als Wichtigstes: kaum einer von diesen Menschen fühlt sich, wenn man ihn auf Leben und Tod danach fragte, wirklich gut – und sie ahnen sehr wohl ihre Hoffnungslosigkeit. Manchen freilich dient gerade diese einem – nicht gern eingestandenen – Genuß. „Palästina–Masochismus“ möchte man es benennen. Die Russen besonders sehnen sich im Geheimen nach Rußland zurück; man kann es sehen, wenn sie am Feierabend beisammen sitzen und hebräische Lieder singen, – und dann einer so von ungefähr ein russisches Liedchen mit vielen Refrains, – und wie die anderen, einer nach dem anderen, mitzusingen beginnen, etwas ironisch zuweilen, dann immer tiefer und tiefer in sehnsüchtige Schwingung geratend, bis plötzlich einer von den Strengeren daran erinnert, daß man hebräisch sprechen müsse.
Im Übrigen glaube ich, daß nicht hier in den Kolonien sich das Positivum oder Negativum des zionistischen Gedankens offenbart. Die Kolonie stellen schon zu sehr „Formeln“ dar und sind auf eine bestimmte Linie festgebannt: sie sind Schlußfolgerungen aus zweideutigen Voraussetzungen.
Ich bin jetzt in Tiberias gelandet. Eine alte Stadt aus schwarzem Basalt, darunter neigen sich weißgetünchte Häuser dem See zu, der heiß und ruhig seine gerade Fläche dehnt. Heiß –: neun, feuerglühend ist hier die Luft; wenn man Tiberias im Sommer kennt, dann kennt man den Begriff „Hitze“. Flammender Boden, die Sohlen brennen wie auf eine Küchenplatte, das Hirn wird schlaftrunken, die ermüdeten Augen werden schlaftrunken in dieser ungeheuren Wärme, tief unter dem Meeresspiegel.
Jesod-Hamaala, 1. August
Am Merom-See. Still, abseits von den Straßen, in erschreckender Ruhe läuft eine breite, hohe Eukalyptusallee vom Seeufer ins Land hinein. Drüben, über dem anderen Ufer, ragt das breite Massiv des Großen Hermôn in die Abendnebel, silbergrau und gelb gefleckt: dort ist schon Syrien.
Rings um diese Kolonie (eine der ganz alten) wohnen Halbbeduinen in den charakteristischen schwarzen Zelten, die aber hier, als Zeichen größerer Bodenständigkeit, Wände aus Strohmatten haben. Ich ging durch so ein Lager; ein großer hagerer Mann in Lumpen trat auf mich zu – es war heller Tag – und fragte, freundlich und vielsagend lächelnd, ob ich ihm nicht meine Jacke abtreten könnte? Ich verneinte ebenso freundlich; darauf erkundigte sich der andere in seinem schwer verständlichen Dialekt, noch freundlicher als vorhin, ob ich vielleicht Geld hätte. Nein, auch das nicht. Er schaute mich eine Weile prüfend an, kam offenbar zu keinen rechten Resultat – und dann gingen wir mit einem herzlichen Händedruck auseinander – er mit seinem Knotenstock in der Hand und ich mit meinem Knotenstock in der Hand.
2. August
Der See Genezareth war eine Feuerhölle, ein Alpdruck weißglühender Hitze. Der Merom-See aber, glatt wie ein Spiegel aus Metall, ist von bezaubernder und weicher Kühle. Abends steigen silberne und von den letzten Strahlen der Sonne rosig aufschimmernde nebelartige Dünste aus ihm auf. Fischerboote harren still. Dicht an den Ufern wohnen die arabischen Fischer in Hütten aus Stroh – Matten lose über ein Gerüst aus Baumzweigen geschlagen – mit zwei gegenüberliegenden Öffnungen. Man sieht durch diese Öffnungen, wie sie am Boden kauern, Pfeife rauchen, essen, kleine häusliche Arbeiten verrichten, wie die Frauen kochen und die Kinder mit Hunden spielen ... Sie sind sehr arm – aber sie brauchen nicht mehr, als diese luftigen Hütten, als die paar verblichenen Kleidungsstücke am Leibe, eine Handvoll Korn zu Brot – und die Fische fangen sie selber.
3. August
Wie weich diese Nacht ist! Wir gehen am Seeufer entlang, mein Gastgeber (der Arzt der Kolonie) und ich. Der Mond ist bleich und riesengroß, es ist Sommermond, ein unendlich stilles Gestirn, er schließt das Wasser des Sees in einen Kreis von schweigendem Licht. Gegen Nordwesten und Norden verlieren sich die Ufer in weite schwankende Moräste; dort wachsen Schilf und hohe Papyrusstauden in dichter Gemeinsamkeit. Im Süden verglimmen die Feuerreste vor den Hütten der Fischer. Unter den Mondstrahlen tanzen die Moskitos in Scharen und kommen zuweilen wie ein zärtlich summender Pfeil auf dich zugeschossen, spitz, sehnsüchtig nach Blut. Man geht geräuschlos, der Fuß ruht im Schreiten aus auf dem sanften Boden.
Eine dunkle Silhouette wächst vor uns auf: wir nähern uns und erkennen ein bewegungsloses Kamel, das mit langem Hals und traurigen Augen starr nach der Seite schaut. Es ist ein krankes Kamel, sagt mein Begleiter. Es war „gebrannt“ worden – und hatte den ganzen vorhergegangenen Tag qualvoll und durchdringend geschrien. – Araber pflegen kranke Tiere mit glühenden Eisen zu bestreichen, um die Krankheit aus ihnen „auszutreiben“. Auch kranke Menschen werden „gebrannt“, besonders Geisteskranke. Man schleppt sie zu diesem Zweck zu den arabischen Wunderdoktoren, den „Schechs“, die unter strengem Zeremoniell den bösen Dschinn der Krankheit beschwören und dann den Kranken an verschiedenen Körperstellen – meist an den Lenden oder den Oberschenkeln verwunden. Diese Schechs stehen beim Volk im Rufe von Heiligen und man kommt von weither um Rat und Hilfe zu ihnen. –
Wir gehen durch die Wiesen nach Hause. Eine große Einsamkeit liegt um die alte Kolonie, nachtstill unter den dunklen Eukalyptusbäumen. Die Kolonisten sind hier träge und fromm, sie beten viel und lassen arabische Arbeiter für sich arbeiten, und die alten Orangenbepflanzungen, die früher einmal bessere Früchte hervorbrachten als die Gärten bei Jaffa, sind längst vernachlässigt und dem Verfall preisgegeben.
Metulla, 4. August
Die Kolonie Metulla liegt schon auf syrischem Boden und ist ein offenes „Loch“ zwischen Palästina und dem französischen Syrien. Eine eigentliche Grenzüberwachung gibt es hier nicht, da Metulla und zwei andere jüdische Kolonien der Nachbarschaft infolge einer Vereinbarung zwischen der englischen und der französischen Regierung in Beirût demnächst Palästina einverleibt werden sollen. So kann man ohne Paß von Palästina hierhergelangen und von hier aus nach Syrien hineinschlüpfen – und erst auf den syrischen Landstraßen werden die Reisenden nach ihren „Ausweisen“ gefragt.
Unterwegs, auf dem sechsstündigen Marsch von Jesod-Hamaala hierher, sah ich einen „Geisterbaum“: einen uralten Pfefferbaum, dessen Zweige mit Tausenden von kleinen bunten Stoffetzen, Läppchen und Bändern verziert waren. Es sind dies Opfer- und Banngaben von den Angehörigen geweiht; so wie alle diese Dinge an den Zweigen festgebunden sind, so soll der Geist die Krankheit vom Kranken nehmen und fest an sich binden. –
Immer mehr Wasser. Immer mehr rauschende Quellen, Bäche, Baumhaine. Immer näher rechts der Gebirgszug des Großen Hermôn... Von dort oben kommt während des Frühjahrs und Sommers der ganze Wasserreichtum dieser Ebene: von den schmelzenden Schneemassen seiner Krone.
Banijâs, 5. August
Heißer Marsch. Vorbei. Grünes Laubdickicht in Benijâs. Schmaler, klarer, starkströmender Bach mit ummauerten Rändern. Ich lege mich platt auf den Bauch, trinke das eiskalte Wasser, endlos, stecke den Kopf bis über die Ohren hinein. „Gott ist groß“ – und es gibt keinen größeren Genuß als Wasser.
Ich hatte mich kurz vor Banijâs verirrt. Was auf meinen Karten als „fahrbarer Weg“ bezeichnet war, erwies sich in Wirklichkeit als ein kaum angedeuteter Pfad, der quer über Wiesen, sumpfiges Gelände und Bäche ging – und sich dann in den Bergen spurlos verlor. Ich irrte stundenlang herum, ging offenbar im Kreise, über gelbliche Hügel mit Steingeröll, hinauf, hinunter – bis ich endlich zwei Arabern auf Eseln begegnete, die Weintrauben und Käse nach Banijâs trugen. Wir gingen das letzte Stück zusammen und sie gaben mir von ihren Weintrauben zu essen.
Medschdel esch-Schems, 6. August
Hier ist es schon tief in Syrien. – Ich habe einen langen Marsch hinter mir, möchte schlafen. Der alte Jude aus Damaskus, der so gar nicht wie ein Jude, sondern wie ein Araber aussieht, scherzt mit den Kindern. er tut es mit seinem bezaubernd süßen, verfallenen Gesicht, mit dem zarten Lächeln seines zahnlosen Mundes. Die Kinder haben keinen Respekt vor ihm, strecken ihm die Zunge heraus – seine Augen sind dabei blicklos in die Ferne gerichtet, wie in vergessenes Leiden hinein –, er ist rührend in seiner Güte, die eigentlich ganz anderswohin zu gehören scheint, er lacht breit und verlegen, schiefschultrig wie ein kranker Knabe, in Demut dem Lebendigen ergeben.
* * *
Medschdel esch-Schems ist ein großes Dorf, ein Städtchen fast, zum größten Teil von Drusen bewohnt – es leben hier nur sehr wenig Christen und gar keine Mohammedaner. Die Drusen: ich sah sie hier zum ersten mal, dieses sonderbare Volk mit seinem reinen „kaukasischen“ Gesichtsschnitt und dem klaren volltönenden, Arabisch. Wie wenig wir von ihnen wissen! In Jerusalem fiel mir ein Buch aus dem 18. Jahrhundert in die Hände, es beschäftigte sich eingehend und kritisch mit dem Ursprung und den „Meinungen“ der Drusen. Es ist heute noch nicht überholt – denn die Drusen sagen nichts über sich selber aus.
Ihre mystische Religion (die man in Europa in allzu billiger Weise als ein „Gemisch von christlichen, jüdischen und muselmanischen Glaubenssätzen“ abzutun pflegt) tauchte zum ersten Mal bedeutsam zu Beginn der Abbassidenherrschaft in Bagdad auf, wurde von ihrem Verkünder Hakim, dem „Mondmacher“, wohl auch zu politischen Zwecken gebraucht (Hakim nahm für die gestürzten Omajjadenkalifen Partei). Die Sekte wurde von den abbassidischen Kalifen sehr bald aufgerieben, Hakim verschwand spurlos – er soll sich angeblich in einen Kessel mit kochendem Öl gestürzt haben, um, wenn sein Körper nicht aufgefunden werde, die Gläubigen an seine, des Propheten, Himmelfahrt glauben zu machen. Und nun kam das Merkwürdige: nach zwei Jahrhunderten. Nach zwei Jahrhunderten völliger Stille kamen aus Chorassan in Persien zwei fremde Männer nach Ägypten, wo gerade ein Kalif (Fathimide) mit Namen Hakim regierte – und den beiden Männern gelang es den Kalifen zu überzeugen, daß er eine Wiederverkörperung jenes entschwundenen ersten Hakim sei. Der Kalif – im übrigen ein grausamer und schwankender Psychopath – gab sich der Idee, eine Reinkarnation des göttlichen Geistes zu sein, mit Leidenschaft hin, und seine Regierung bedeutete für die neue Sekte eine Zeit der Blüte. Aber auch dieser Hakim verschwand auf geheimnisvolle weise; nach (allerdings unbeglaubigten) Aussagen späterer Chronisten soll er auf Anstiftung seiner Schwester, die unter der Tyrannei des Bruders schwer gelitten hatte, ermordet worden sein, als er einmal nachts, um die Sterne zu beobachten, mit einem Begleiter in die Mokattam–Berge bei Kairo ausritt. – Spätere Verfolgungen ließen die inzwischen stark angewachsene Sekte nach dem Libanon auswandern, wo sie in den dort lebenden Überresten der syro–phönizischen Urbevölkerung aufging und bald darauf als eigenes Volk ihren Glauben an den „neunmal erschienenen Gott“ pflegen konnte. Worin dieser Glaube besteht, wissen wir nicht genau, da die „Akals“, die drusischen Priester oder vielmehr Eingeweihten (einen eigentlichen Priesterstand gibt es bei ihnen nicht) ihre heiligen Schriften auch jetzt noch außerordentlich geheim halten. – Politisch spielen die Drusen (nach einem ihrer Propheten, Ibn El-Darasi, vielleicht auch nach einem alt-arabischen Schimpfwort – „die Unzüchtigen“ – so benannt) bis tief ins siebzehnte Jahrhundert hinein unter eigenen Emiren eine bedeutende Rolle; sie verstanden sich der Pforte gegenüber eine relative Freiheit zu bewahren – bis der Versuch ihres Emirs Fakhr-ed-Din, mit Hilfe des Großherzogs von Toskana und des Papstes ein vollkommen selbständiges Drusenreich zu errichten, mißlang, Fakhr-ed-Din in Stambul den Kopf und die Drusen ihre politische Freiheit verloren. – Kämpfe mit den Arabern und dann noch die folgenschweren, von den Drusen ins Werk gesetzten syrischen Christengemetzel (1860) zwangen den größten Teil dieses Volkes, nach dem Haurân auszuwandern, der auch heute noch bei den Arabern „Dschebel-el-Druz“ (Drusengebirge) heißt.
7. August
Ich bin Gast. Gast eines Arabers sein – davon hören schon die Schulkinder in Europa. Gast eines Arabers sein – das heißt: einige Stunden, eine Zeit lang wahrhaft ins Leben des anderen treten. Ist es aber ein Edelsinn, der dies ermöglicht, – eine besondere arabische Tugend? Ich glaube, nicht. Die Araber sind so wenig in sich selbst verrannt, so wenig eingeknäuelt in eigene Vergrämtheiten, daß sie eben ohne weiteres ihr Leben dem anderen auftun können. Edelmut – das hätte zur Voraussetzung, daß es ein Leichteres und ein Schwereres gäbe und daß man einer ethischen Erkenntnis zur Folge das Schwerere wählt. Hier aber gibt es nicht diese Wahl: denn das Leben ist unmittelbar und seine einheitliche Linie gerade. Sie sind zu sicher ihres eigenen Daseins, um zu einer Sicherung zwischen sich und der Außenwelt erst Mauern aufstellen zu müssen.
Wir aßen, unbeschuht auf Matten im Kreise sitzend, aus einer gemeinsamen Schüssel einen Brei aus grobem Weizenschrot und Milch. Löffel gab es nicht; die Araber rissen immer von den großen, blattdünnen Brotfladen kleine Stücke ab, mit denen sie geschickt den Brei löffelten, ohne ihn je mit den Fingern zu berühren. Ich versuchte, nicht ohne Erfolg, es ihnen nachzumachen.
Als wir uns schlafen legten, die arabische Familie und ich, an ein Dutzend in demselben Raum, sah ich die braunen Deckenbalken über mir, die zahllosen Nischen in den Wänden, und fragte mich, ob ich mich „bei mir zu Hause“ mehr zu Hause fühlen könnte, als hier, bei fremden Arabern zu Gaste –.
Und plötzlich weiß ich, was uns die Araber fremd macht: ihr Mangel an Leiden. Sie kennen nicht das Leiden... (Es ist vielleicht, trotz allem, ein Mangel.)
El-Katana, 9. August
Von Medschdel esch-Schems brach ich vor Sonnenaufgang auf und ging in einem einzigen Gewaltmarsch hierher. Als ich die ersten steinigen Berge überschritt, war es eine Ebene, ein weites flaches Feld, mit schwarzen Lavabrocken dicht und unerklärlich gespenstisch übersät. Ganz weit im Osten, in blaugrauer Undeutlichkeit, schimmerten die Berge, zwischen denen Damaskus liegen mußte. Es war aber noch sehr weit. Der Große Hermôn begleitete mich immer zur Linken, immerfort, wie eine lange Mauer, zarttönig und mit weißen Schneefeldern um die Gipfel.
Über Maisfelder und steinige Bäche, über nichtendenwollendes hügeliges Wiesenland, über ausgetrocknete Hänge, durch ein Dorf am Wasser, ein Dorf am Berg, an einem anderen, das am Fuße des großen Gebirges lag, vorbei, durch jene endlosen Stunden der Müdigkeit, – bis auf einmal, in großer Ferne, in violetten Schatten, Damaskus inmitten eines Baummeeres erschien, verschwand und wieder erschien.
Bis jetzt war es mir immer gelungen, die syrischen Gendarmenposten und Polizeistationen zu umgehen. El-Katana ist die letzte Etappe. Werde ich morgen in Damaskus schlafen?
Damaskus, 10. August
Von El-Katana über die breite Straße, im Auto, wie ein halbstündiger Sprung in die Baumebene von Damaskus! Es war Dämmerung. Am Horizont das Ziel. Vor mir ein einsamer Berg, von der Sonne noch beleuchtet, während am Fuße schon weiche Schatten emporkrochen. Darüber schmal, lang, goldglitzernd am blaßblauen Himmel, eine einzige Wolke. Taubengraue Dämmerung. Steil und fern die Berge zur Rechten, zur Linken. Leichte Luft.
Dann: hohe Obstgärten, von Lehmmauern umschlossen. Reiter, Wagen, Karren, Soldaten. (Französische Soldaten.) Ein Offizier in Khaki rast auf dem Motorrad vorüber, mit seiner riesigen Schutzbrille wie ein Tiefseefisch anzusehen. Die Dämmerung wird grün. Dann: die ersten Häuser. Dann: Damaskus. Wie ein Meer von Lärm nach der Stille der weiten Landstriche. die ersten Lichter flammen auf. –
* * *
Abend. Altstadt. Eine enge Gasse, von den überhängenden Erkern noch nächtlicher gemacht, als es die Nacht selber tut. Hie und da im gelben Petroleumlicht eine Butike erkennbar, ein kleiner Berg von Wassermelonen und Körbe mit Weintrauben. Menschen wie Schatten. Manchmal, hinter den vergitterten Fenstern, ein plötzliches Frauenlachen.
In einer kahlen Lehmmauer: ein Torbogen. Der kleine Knabe, der mich bisher geführt hat, sagt: „Hier.“ Ich gehe hinein, durch den doppelt gebrochenen Korridor in den Hof. Ein mauerumschlossenes Viereck; aus den schwarz-weißen Marmorplatten des Fußbodens wachsen Zitronenbäume mit schweren grünen Früchten; ein steinernes Bassin und eine Fontäne in der Mitte; an den Wänden ringsumher, undeutlich in den tiefen Schatten erkennbar, schimmern Marmorreliefs. Über dem Hof und über den Bäumen ein schwarzer Sternenhimmel. Dann ruft jemand von oben: „Tfâddal, jâ sidi“ (bitte, mein Herr), – und ich steige die schmale Treppe an der Außenseite der Wand empor, gehe durch eine offene Säulengalerie.
... Ich bin todmüde, vollkommen erschöpft, lasse mich auf das dargebotene Bett fallen. – Es rauscht. Wind vorne in den Gartenbäumen. Wind hinten in den Bäumen des Hofes. Und aus der Ferne viele dumpfe Laute, die große Stadt vor dem Schlafengehen.
12. August
Ich gehe durch die Straßen. Ich gehe durch die weitläufigen, zum Teil mit europäischer Dutzendware überladenen Basare, die nach Gewerbezweigen geordnet sind. Einiges bleibt in der Erinnerung. Im Tischlerbasar die schönen Einlegearbeiten aus Holz und Perlmutter. (In den meisten dieser Werkstätten werden hohe, überreich inkrustierte Holzpantoffel für Frauen gemacht – und zwar auf eine merkwürdige Art, indem die Arbeiter wie Affen auf dem erhöhten Fußboden kauern, mit einem Fuß den Holzschuh festhalten und mit den Händen die Werkzeuge führen; Schraubstöcke gehören zu den unentdeckten Wundern.) Dann ist da der Lange Markt mit seinen Teppichen, Seidestoffen, Wollstickereien aus Persien, Damaszener Kopftüchern („Keffije“), Bagdader Tüchern, Kleidern für Männer und Frauen. Der Sattlerbasar – intensive Gerüche nach Leder und Lack. Gewürzmarkt, daneben Süßigkeiten über Süßigkeiten in gewaltigen Mengen gehäuft. Der Griechenbasar mit tausend echten und unechten Kuriositäten, ziselierten Kupfer– und Messingdingern. – Dann die Châns mit hohen Kuppelwölbungen und Stalaktitenportalen; hier sind sie mehr als bloße Herbergen, in ihnen hat der einheimische Großhandel sein Zentrum, – und die weiten Säulenhallen, deren Wände und Pfeiler aus abwechselnd schwarzen und weißen Steinlagen bestehen, sind oft bis zur halben Höhe mit schweren, fremdartig riechenden Warenballen gefüllt.
Dann die Gassen der inneren Stadt, schmal, gewunden, mit balkengestützten Erkern, die sich fast Stirn an Stirne lehnen und hölzerne Fenstergitter dem Sonnenlicht zuwenden. Hier ist es immer still, nur schwarzverhüllte Frauen huschen zuweilen mit schnellen Schrittchen vorüber, oder ein alter Mann, in langem Kaftan und mit langem Bart taucht langsam auf, biegt um eine Ecke und ist verschwunden. Oder einer der vielen herrenlosen Hunde zerrt geduldig an irgendeinem Abfall. Immer Ecken und Winkel, immer die Gäßchen, die sich kreuz und quer schneiden, immer in ein Unbekanntes zu führen scheinen und immer in ebensolche Gäßchen münden...
Hunderte von Obsthändlern. Weintrauben, Feigen, Pfirsiche, Äpfel und Birnen. Die meisten aber verkaufen „Sabâra“, die Frucht der wildwachsenden Kaktee. Wenn man ihre stachliche, heimtückische Haut abzuziehen versteht, kommt ein orangefarbenes Fleisch zu Vorschein – es schmeckt wunderbar konzentriert, kühl und süß.
13. August
Ich finde mich in Damaskus nicht zurecht und gehe in einem Gefühl herum, als sollte sich die Befriedigung meiner Erwartungen hier nicht realisieren. In allen anderen Zentralpunkten des arabischen Lebens, die ich bisher kannte, in Kairo, in Jerusalem, selbst in dem kargen, noch ungeformten Transjordanien, schlägt einem das spezifische „Positive“ in der ersten Sekunde entgegen: die Leidenschaft der Gegenwart, das Streben der Gegenwart – es offenbart sich dort in den unscheinbaren Gesten. Hier ist seelisches Schweigen, Ruhe, scheinbare Ausgeglichenheit. Oder fehlt mir vielleicht nur der Nerv, aus dieser Ausgeglichenheit und Heiterkeit den wesentlichen Kern herauszufinden? Und diese Stadt hat Untertöne, die mir eines Tages hörbar werden – ?
15. August
Was im Orient durch Jahrhunderte reglos schlief, und durch den Krieg geweckt, sich zu regen begann, in eine leidenschaftliche Form von Aktivität hineinwuchs, Angora gebar, das Ägypten der Nachkriegszeit gebar: hat es sich hier in Damaskus ruhig wieder schlafen gelegt? Kaum. Trotz aller Damaszener Passivität – kam. die Besinnung auf eigene politische Existenz ist auch hier organisch gewachsen. Auch hier haßt man die abendländische Macht, auch hier hat man sich anfangs blutig gegen das französische „Mandat“ empört – heute aber ist dieser Haß phlegmatischer und – man könnte sagen – gleichgültiger als anderswo. Man ist in alle Schleier der Bewegungslosigkeit gehüllt ...
Die Stellung Frankreichs ist unverhüllt. Schon durch sein Bewußtsein, „Erbe des lateinischen Rom“ zu sein, mußte die Tendenz diktiert sein, das Mittelländische Meer in die Hand zu bekommen und damit eine Kulturerbschaft Roms, das Primat im Nahen Osten, anzutreten und auszubauen: und dies auf dem Wege einer Verbreitung der eigenen Kultur (mit der im allgemeinen die Verbreitung der eigenen Wirtschaftssphäre Hand in Hand zu gehen pflegt). Der Gedanke „Rom“ ist mit dem „europäischen Gedanken“, der offiziellen Repräsentation des Westens eng verknüpft: so wußte sich Frankreich die Rolle eines Beschützers der Christenheit im Orient zu verschaffen. Bis vor wenigen Jahrzehnten noch war im Orient in kultureller Hinsicht „Frankreich“ mit „Europa“ fast identisch; und es ist nicht zu unterschätzen, daß auch heute noch der gebildete Orientale – Araber, Türke, Perser, ja selbst Abessinier – zur Verständigung mit den Europäern sich der französischen und nicht etwa der englischen Sprache bedient (mit geringen Ausnahmen in den von England jüngsterworbenen Ländern); selbst in Ägypten, wo die Engländer seit vierzig Jahren politisch dominieren, ist die Sprache des großen Handels, der „Gebildeten“, der Europäisierten immer die französische; und wenn in Kairo oder Alexandrien ein arabischer Schuhputzer ein paar europäische Brocken versteht, so sind es französische. – Solche Dinge sind Symbole – und was sie darstellten, die Ansätze einer französischen Durchdringung des Ostens, konnte bis zu dem Zeitpunkt genügen, wo England schlicht und „kulturlos“ von einer orientalischen Kolonie zur anderen Brücken zu schlagen begann, und zwar von außen her, und nicht, wie die Franzosen, „von innen her“ ...
Seit den Damaszener Christenmassaker (1860), wo eine französische Flotte vor Syrien erschien, Truppen landete und von der Pforte die Schaffung einer autonomen, christlich regierten Provinz Libanon erzwang, tritt die französische Kolonisierungstendenz offen zu Tage: an der Ostküste des Mittelmeeres eine Flottenbasis und ein Wirtschaftsgebiet mit reichem (oder wenigstens zukunftsvollem) Hinterland zu besitzen. Damit ist die Möglichkeit gegeben, den Orient praktisch zu beeinflussen, Herr im Mittelländischen Meer zu werden und vor allem – England gegenüber in dieser Linie ein gewisses Gleichgewicht zu erlangen. In diesem Sinne arbeiteten hier in Syrien seit Jahrzehnten französische kommerzielle Unternehmungen, wurden Bahnen mit französischem Kapital gebaut und französische Missionspropaganda getrieben. Eine starke Stütze boten die kulturell vorgeschrittenen christlichen Elemente unter den Arabern (insbesondere im Libanon). Schließlich galt der Kampf auch der deutschen wirtschaftlichen Expansion, die sich in Syrien und Mesopotamien einen weiten Markt zu erobern vermochte.
Es war aber bezeichnend (und auch dies fast ein Symbol), daß im Weltkrieg englische und nicht französische Truppen Syrien und den Libanon eroberten – oder wenigstens, wie dies bei der Einnahme von Damaskus der Fall war, englische Bundesfreunde: die arabischen Reiter des Königs Hussein. Nach Beendigung des Krieges wurde mit Unterstützung der starken englischen Militärpartei Husseins Sohn Faissal zum König von Damaskus ausgerufen; Frankreich mußte sich, als Ergebnis jahrhundertealter Aspirationen (und trotz eines interalliierten Abkommens aus dem Jahre 1916, das Frankreich Syrien zur Gänze zugesprochen hatte), mit einem Mandat über den Libanon begnügen... Erst nach Faissals Verdrängung, die schwere Kämpfe kostete, konnte Frankreich das ganze einheitliche Wirtschaftsgebiet – Syrien, den Libanon und später auch den Haurân – in seiner Hand vereinigen. Dann aber wurde zur Wahrung des Erworbenen in administrativer Hinsicht das Teilungsprinzip durchgeführt: einem Staat Libanon (vorwiegend christlich, mit Beirût als Hauptstadt) steht die sogenannte Syrische Föderation gegenüber; es sind dies die Staaten Damaskus, Aleppo und der Staat der Alauiten (diese letzteren, ein gesonderter arabischer Volksstamm, bewohnen das Gebiet zwischen Beirût und Aleppo; ihr Verwaltungszentrum ist die Stadt Lattakije am Mittelmeer). Alle diese Staaten haben eine papierene „Autonomie“, werden von einheimischen Gouverneuren regiert – hängen aber in Wirklichkeit bis ins letzte Detail vom Haut Commissaire in Beirût ab (mit Ausnahme des drusisch–arabischen Haurân, dessen Unbotmäßigkeit den Franzosen viel zu schaffen macht). Im Gegensatz zum christlichen Libanon ist der Wunsch nach völliger Unabhängigkeit in den syrischen Staaten sehr ausgeprägt und wird natürlich seitens der Mandatsmacht mit allen möglichen Mitteln unterdrückt. Fast alle politischen Führer sind verbannt oder zu langjährigen Kerkerstrafen verurteilt, die nationalen Zeitungen zu absolutem Stillschweigen gezwungen.
Ich muß mich immer fragen, ob nicht letzten Endes diese Abdrosselungspolitik an dem Schweigen in Damaskus die Schuld hat – ? Die Stadt wimmelt von Militär. Es sind weniger rein französische als Kolonialtruppen (vor allem Marokkaner), und daneben die „Légion Syrienne“, eine einheimische Freiwilligentruppe unter französischem Kommando. Sie bietet den raffinierten Vorteil, bei Zusammenstößen mit der Bevölkerung nicht so ohne weiteres das Wort von den „fremden Henker“ aufkommen zu lassen.
17. August
Damaskus ist im ganzen Orient berühmt wegen seiner guten Küche – und vor allem wegen seiner Zuckerbäckereien. Dieser sanfte Lebensgenuß durchdringt hier das ganze Leben. Auch die fanatische Religiosität der Damaszener erscheint mir in diesem Lichte des Selbstgenusses: sie ist selbstbeschränkend und nicht von flammender Art. Sie sprechen so gerne von „ihrer“ Gläubigkeit, von „ihrer“ Vergangenheit, von „ihrer“ Kultur mit einem leisen Anklang von Verachtung gegen die übrigen tagesdurchzitterten arabischen Länder...
Wo ist die arabische Einigkeit? Und – ist sie möglich, heute schon ...? Ich glaube, sie wird erst kommen, wenn die arabische Freiheit in den einzelnen Ländern schon lange errungen sein wird; und nicht vorher.
19. August
In den letzten Tagen habe ich mich bemüht, dahinter zu kommen, was eigentlich diese Stadt bewegt und treibt, sie zu einem Kessel von hundertstimmigem Lärm und buntem Menschengewimmel macht, in jeder Linie das vollkommenste Morgenland zeigt – und sie im selben Atem nivelliert und gleichsam nur in die Breite drückt. Kein Rausch, wie in Kairo, keine Gier, wie in Jerusalem; überall und gleichmäßig die arabische Heiterkeit.
Auch die Stadt selbst, ihre äußere Erscheinung, ist an diesem oder jenem Punkt immer dieselbe, sie hat keine Tiefentöne und keine Lichter. Ihre Paläste hinter grauen Mauern, das farbige Treiben, die Rufe und Melodien in den Straßen, – wie ist hier alles „nur-farbig“ und ohne Spannungsdimensionen! Ist es möglich, daß der Orient in Wirklichkeit zwei Gesichter hat, ein erwachendes und gegenwärtig-erregtes – und daneben das legendäre unbewegte, „unpolitische“? Und doch ist natürlich auch hier keine Rede von der „Trägheit des Orientalen“ (zum mindesten nicht des Arabers); so etwas gibt es nicht. Alle diese Menschen befinden sich in einem einzigen Wellenlauf von Fleiß und Arbeit – nur daß hier diese Arbeit sich in ihren Kleinlichkeiten zu erschöpfen scheint und keinen Raum für Erregung hat. Warum? „Konservativismus“? Dann hieße es ja aber, daß der Orient aus sich selbst heraus doch nicht die Kraft hat, jenen Weg der zukünftigen Erfüllung und inneren Freiheit zu gehen, der sich mir bis jetzt, in den anderen arabischen Ländern, so unzweideutig zu ergeben schien. Und doch: dieser Weg ist keine Chimäre, er gründet sich auf die einzige unwiderlegbare Tatsache des arabischen Wesens: auf den traumlosen Kontakt des Individuums mit sich selber, Kontakt, wie man ihn im Abendland nicht findet. Konservativ sein, das ist gut, wenn man Wertvolles zu bewahren hat, solcherart, daß aus den Werten der Vergangenheit die der Zukunft eines Tages heraufkommen. Aber das Wertvolle des Orients liegt nicht in seiner pathetischen Vergangenheit. Und es ist nur innere Konsequenz, daß die Araber in Damaskus, wo sie in ihre Vorzeit verliebt sind – und sie sind es hier in einem starken Maße – keine nennenswerte politische Gegenwart besitzen.
20. August
In Damaskus kehrt sich das Leben des Hauses nach innen, weit mehr als in irgend einer anderen orientalischen Stadt. Eine Folge davon ist, daß hier die Paläste der Reichen nach außen hin wie lehmfarbene Speicher aussehen und, wenn man sie betrifft, umso überraschender ihren Reichtum und Prunk enthüllen. – Ich habe noch nie so viel Marmor und Alabaster gesehen, wie heute, als ich einen reichen Damaszener in seinem Hause besuchte. Der Hof war breit und luftig; wie ein Schachbrett gefeldert: in weißen und schwarzen Marmorplatten. In einer flachen achteckigen Brunnenschale rauschte leise das Wasser der Fontäne. Zitronenbäume und Oleandersträucher neigten die blüten- und fruchtbeladenen Zweige im Schatten der Mauern, die vom Erdboden bis zum Giebel mit Alabasterstuck und Reliefs von zartester Arbeit bedeckt waren: lauter pflanzliche Ornamente, da es den Gläubigen verboten ist, Tiere und Menschengestalten nachzubilden. Die Fensterrahmen aus vielfach durchbrochenem Marmor, ein Spitzenwerk aus Stein. An einer Seite des Hofes bildeten die Mauern eine vertiefte und gedeckte Nische, die bis zur Hälfte von einem riesigen Divan mit kostbaren Teppichen eingenommen war; die Wände dieser Nische bestanden bis zu vier Metern Höhe aus gewaltigen Spiegeln; in den Spiegeln fand der ganze Hof mit seinen Bäumen, Reliefs, Fenstern, Türen, mit seinem Brunnen und seinem schwarz-weißen Fußboden seine imaginäre Verdoppelung – und wenn man hineinschaute, entdeckte man, daß die gegenüberliegende Wand ebensolche Spiegel hatte – der Hof wurde hin und her reflektiert, zweimal, viermal, hundertmal, – wie ein saalartiger Gang aus Marmor, Alabaster, Spiegeln und Baumgrün in unermeßlicher Länge und unter einem sommerlichen Himmel aus durchsichtigster Bläue...
Was ist denn dieses Damaskus? Hat es sich an die äußersten Ränder der Welt verloren? Phäakenstadt...?
23. August
Ich quäle mich in Damaskus... Vielleicht war diese Stadt zu schwer erreicht, um mir jetzt noch etwas bedeuten zu können – weiß ich? Sie quält mich, ich muß es täglich hundertmal fühlen, daß sie nicht das „verschlossene Paradies“ ist, zu dem man zwangsartig streben zu müssen glaubte, um ins Innere des arabischen Lebens zu dringen. Sie raucht nicht, sie ist kein Wellenschlag, sie ist wie ein endloser gleichgültig-heiterer Tag; tief schlafen hier die Stimmen der Verheißungen...
Bin ich gerecht? Erlebe ich nicht vielleicht an dieser Stadt etwas, was wir sonst an vielen Tagen unseres Lebens erleben: daß das wahre Lebendige, das wahrste Wahrhafte erkannt wird ... und trotzdem, infolge innerer Entspannung und Unwahrhaftigkeit, doch nicht zur täglichen Realität wird?
24. August
Freitag. Durch Damaskus vibriert es, wie ein kleiner, beglückender Wirbelwind von Unruhe und Feierlichkeit. Unsere Sonntage in Europa, die stillen Straßen und geschlossenen Läden; Erinnerungen an alle öden Tage in allen Städten; eine Beklemmung der Leere; warum? Hier versteht man es: Weil bei uns das Dasein, das Alltagsdasein von den Meisten als eine bedrückende Last empfunden wird, von der uns nur der Sonntag befreien und sie uns für Augenblicke vergessen lassen kann. Es ist kaum ein Ruhetag mehr, es ist eine Flucht ins Unreale, hinter der, doppelt so schwer, der „Alltag“ lauert. – In der arabischen Welt ist das Dasein keine Last. Nicht, daß es diesen Menschen leicht und mühelos wie eine reife Frucht in den Schoß fiele: sondern ganz einfach darum, weil ihre Arbeit, auch die schwerste, durchaus mit ihrem persönlichen Instinkt übereinstimmt, auf ihm sich aufbaut und nur von ihm getrieben wird. Wieso es dazu kam –? Ich glaube, man müßte sich fragen, wies es – bei uns – anders kam. Auch die Araber sind keine „Primitiven“, auch sie haben das Paradies weit hinter sich. Aber ihr Leben strömt in animalischer Naivität aus dem eigenen Atem heraus.
Freitag – keine erwünschte Gelegenheit zum Vergessen, sondern Steigerung des Lebens. Der Islam schreibt für diesen Tag keinen Ruhezwang vor. Die Handwerker in den Basaren arbeiten ein paar Stunden, machen dann ihre Buden für ein paar Stunden zu und gehen fort – in die Moschee oder zu Freunden ins Café –, kommen dann wieder und arbeiten wieder ein wenig in heiterer Nichtanspannung, wie es jedem einzelnen jeweils behagt. Feiertag ist kein Feiertagszwang, sondern nur Selbstgewähren und Seinlassen. – Wenig Läden sind geschlossen, alle Straßen durchflutet wie an den anderen Tagen – und noch etwas mehr. Die Männer (nur diese, denn die Frauen gehen, wie immer, in ihrem gleichmäßigen Schleierschwarz) tragen heute ihre schönsten Gewänder –: jene berühmte Damaszener Seide und weiße chinesische Rohseide und indische Brokate und gestreifte, knisternde Stoffe aus Persoen; lange Mäntel aus feinem Tuch, in allen Farben; die Tücher um den Tarbuch sind weiß und golddurchwirkt (die Geistlichen und Gelehrten tragen weiße Turbane und die Nachkommen des Propheten grüne). – Dann Beduinen, Wüstenbeduinen mit ihren herrlichen leuchtenden Augen; kleine schwarze Bärte umd die braunen, hageren Gesichert, die Köpfe unter rot-weiß und schwarz-weiß gewürfelten Keffijen; langer Schritt unter schleppendem Mantel; wenn sie zu zweit gehen, halten sie einander wie Kinder an den Händen; manchmal sind sie zu Pferd – und sehen stolz und unberührbar aus, die echten Söhne Ismaels, die Reinen, Unvermischten.
Zu Mittag, vor der Freitagspredigt, geht ein Ausrufer durch die Straßen und fordert gewaltig und eindringlich die Gläubigen auf, in die Moschee zu kommen. Die Muezzine singen von den Minâres – von den ungezählten Minâres in Damaskus schwingen ihre Stimmen gegeneinander, wie bei Feldwachen, die sich anrufen, – fünfmal am Tag; nach Sonnenuntergang, wenn die Nacht anbricht, wenn der Tag anbricht, zu Mittag und vor Sonnenuntergang.
26. August
... Ich erblickte die Frau in einem dieser dämmrigen überwölbten Basare; sie war mittelgroß, wie alle Frauen hier schwarz gekleidet, nur ihre Schuhe waren weiß, wenn auch nicht sehr sauber; und sie fiel mir auf, weil sie – gegen alle Sitte – den Schleier zurückgeschlagen trug und ihr schönes, bleiches Gesicht, jung und doch schon etwas welk und abgespannt, mit großen, schwarzen, traurig-selbstsicheren Augen; um den Hals hatte sie eine Kette aus Messingringen und bunten Steinen – und in der lose erhobenen Hand eine Zigarette, die sie von Zeit zu Zeit an die schmalen, halboffenen Lippen führte. Sie war zurückhaltend und abgegrenzt, wie eine dunkle Welt für sich. Ich sah ihr nach, wie sie so langsam und still durch das Männergewühl schritt einem leichten, wiegenden Gang, der sowohl Freiheit wie Trauer verriet. Öfters trat sie auf eine der Verkaufsbuden zu, sprach einige Worte, und man reichte ihr, fast immer, einen dünnen Brotfladen, den sie in ihr schwarzes Brusttuch legte; ich bemerkte, daß sie schon viele solcher alten Brote gesammelt hatte. War sie eine Kurtisane? Wahrscheinlich, nach ihrem Gesicht und dem stolzen, unendlich ruhigen Gang zu schließen. Vielleicht aber war sie es nicht, denn sie bettelte ja ...
Dann sah ich sie immer weiter und weiter in der Menge verschwinden, sie verschwand und wurde wieder sichtbar, sie war ein Geheimnis und ging immer im gleichen, wiegenden, stillen Schritt, in der lose erhobenen rechten Hand die Zigarette...
28. August
Arabische Musik. Auf der Estrade vier Männer. Einer hatte eine Gitarre, der andere ein Tamburin, der dritte ein zitherähnliches Instrument und der vierte so etwas wie eine Flasche aus Messing, die sich nach unten stark erweiterte und deren Boden aus einem Trommelfell bestand. Sie finden, wie für sich, zu spielen an, der mit der Gitarre zupfte wie in Zerstreutheit an den Saiten, leise knarrende Töne in rascher Folge; und ehe man es merkte, waren die anderen eingefallen, eine Melodie schälte sich heraus: inmitten der zirpenden Töne etwas wie das rhythmische Fallen und Steigen eines metallischen Gegenstandes, langsamer und rascher, leiser und kräftiger – in unpathetischer Beharrlichkeit dieses eine ununterbrochene Geschehen. Melodie? Ich könnte es nicht sagen. Ich hörte aufmerksam zu, ich wollte möglichst geschlossen und bewußt an dem Ereignis „arabische Musik“ teilnehmen, an dieser akustischen Erscheinung, die in ewig unveränderter Spannung erzitterte, wuchs, sich ausbreitete, zu Kopf stieg; aber wie es plötzlich abbrach mitten in der Schwingung (zu früh, wie mir schien), wußte ich: ich war gefangen; die Spannung hatte mich unmerklich und hart umwickelt; ich war mit hineingerissen in diese Töne, deren Monotonie nur Konsequenz war, auf einen ganz bestimmten, vom persönlichen Urbeginn an vorhandenen Seelenzustand hinzielte und ihn im Hörer Schritt um Schritt bloßlegte ... nur bloßlegte etwa, was schon früher da war, real bis zum Herzklopfen.
Nach einem Augenblick der Stille klingt das Tamburin schrill wieder, die anderen Instrumente folgen. Ein sanfteres Wiegen, ein femininerer Rhythmus als vorhin; die einzelnen Stimmen fügen sich mehr ineinander, gebannter, erregter; streicheln einander, schweben umeinander in weichen Wellenlinien, die sich noch manchmal an den Klängen des Tamburins wie an harten Widerständen brechen, dann aber an Macht gewinnen, menschenhoch steigen; die Wellenlinie jagt gewaltsamer, schneller, höher, schriller, in ein kaltes Furioso bewußter Leidenschaft hinein, aus dem Kreisen wird ein Rotieren von Tönen, wie sausende Räder ohne Maß und Halt. Brutal: Abbrechen. Brutal. Ehrlich. Rein. Und wie Blätterrauschen geht das halblaute Gemurmel „jâ Allah“ durch die Zuhörermenge.
Es ist eine so ganz andersartige Wirkung, als sie europäische Instrumentalmusik bezweckt und voraussetzt, sie ist aus so ganz anderen Quellen geschöpft, daß hier die Fremdheit beider Kreise, des europäischen und des arabisch-orientalischen, vollends fühlbar wird: wobei hier noch die tiefste Fremdheit dieser Menschheitstypen als eine methodische erscheint; keine Fremdheit verschiedener Lebensquellen; ob man mittelbar oder unmittelbar die Lebensquellen zu Erlebnis-Notwendigkeiten erhebt: dies macht den Unterschied. Und während in der europäischen Musik der gesamte Fundus seelischer Zusammenhänge herangezogen, durchwühlt wird, in jedem Stimmungsniveau alle anderen, möglichen, gespiegelt werden: fließt diese arabische Musik aus einer einzigen Bewußtseinslage, aus einer einzigen Spannung, die weit ist und nur Spannung ist und bei jedem Zuhörer private Formen annehmen kann, läuft in der Gleichmäßigkeit ihrer Intensität ohne Steigerung oder Minderung, ohne Atemholen, wie im waghalsigen Seiltänzerschritt über einen geisterhaft schmalen Grat, von Anfang bis zum Ende einer gegenwärtigen Lebensbahn.
* * *
Die Zuhörer? Sie waren wie Kinder, die ihre längst begriffenen und immer wieder lockenden Spiele spielen, sie lächelten selig, immer. Einige Beduinen waren erschienen, fast schwarzverbrannte, aus der Wüste. Wohl ein Schech mit Gefolge. Ihre neuen Kleider rauschten und sie trugen alle silberbeschlagene Schwerter und Dolche in kostbaren Gürteln. Sie waren lässig und gemessen zu gleicher Zeit und benahmen sich nicht schlechter als arische Aristokraten: nur das ihre Ungeniertheit, zum Unterschied von diesen, wie ein warmes Feuer war und nicht durch Generationen guten Lebens und sorgsamer Pflege anerzogen. Eine gute Luft war um sie, eine trocken und unverschwommene Atmosphäre – dieselbe Luft, wie ich sie einmal in Wirklichkeit am Rande der Wüste empfand: in ihrer Keuschheit umfassend und unaufdringlich. Wie Freunde, wie Besucher waren sie; ihr freies zielloses Leben wartete wo anders ...
* * *
Heimweg am späten Abend. Ich kam aus dem Basar El-Hamidije in die Kurze Straße, die rechts und links von uralten Säulen mit korinthischen Kapitälen eingefaßt ist, und sah Licht im Hofe der Großen Moschee, hörte gedämpften Chorgesang. Eine Totenandacht. Flimmernde Lichtstreifen auf glatten Marmorfliesen, Nachtschatten nebenher. Um den feinsäuligen Kuppelbau in der Mitte: braune, schmale, sehr hohe Filzmützen der betenden Derwische, die wie Riesenvögel, vereinzelt, einsam auf dem spiegelnden Boden des ungeheuren Hofes kauern. Schattengestalten bewegen sich lautlos unter den Arkaden. Eine gedehnte Liturgie, schwere Rhythmen, aus denen manchmal hoch und gellend die Stimme des Vorbeters schallt und eine Weile in der Nachtluft schwingt. Alle Köpfe, außer den unbeweglichen der Derwische, wiegen sich, hingegeben, berühren mit der Stirn den Boden, während das Singen wie ein weiches und trauriges Band durch die Schatten und Lichter läuft ... Ein Duft ohne Namen. Eine luftdünne Stille zwischen den Klängen.
30. August
In Damaskus schwimmen die Stunden, sie haken sich nicht ineinander, Glied um Glied, zur Kette eines herrlichen Lebens. Diese Stadt erschüttert nicht durch Unvorhergesehenes und bejaht nicht gespannte Erwartungen. Die Erwartungen? Ich habe in den Arabern in einem Augenblick, der sich zu Tagen und Monaten dehnte, das Einzigartige gespürt, und suche nun immer, über alles hinweg, nach ihrem starken Lebensakzent. Nur dieses eine. Übergenug. Ich – wir – haben keine Muße zu „objektivem Anschauen“; wir sind alle gequält, in einen Hexenkessel gebannt, wir mühen uns, Auswege zu finden. Und ein solcher Ausweg ist es schon fast, das Ewig–Erregende, den Strom des Lebendigen in einer so großen Masse, in einem fremden Volk zu vernehmen – denn dann ist man selbst mittendrin ... beinahe; nur von einer dünnen durchsichtigen Mauer der Unruhe getrennt, hinter der die wirklichen Dinge, noch nicht ergriffen und doch erkannt, strahlend vorüberziehen ...
Aber Damaskus schweigt in seiner Lautheit. Die Menschen dieser Stadt haben ihren alten Glanz zu sehr geliebt, sich in ihn vernarrt und vergessen, aus den ausgetretenen Kreisen herauszuspringen, als es an der Zeit war. Sie sind selbstgenügsam, sie sind eitel – nicht auf sich selbst, was kein Unglück wäre, sondern auf etwas, was andere emporgetragen haben: auf ihre alte Kultur. Die Damaszener sind fanatisch gläubig dieser Kultur gegenüber, sie sehen immer noch ihr Aufblühen und ihre Blüte – und haben ihr Erkalten übersehen. In diesem Traum von sich selbst – der weder an kleiner Geschäftigkeit, noch an lächelndem Tagesgenuß hindert – verschlafen sie ihre Zeit, verschlafen die Stimmen, die anderswo längst zum Rufen gekommen sind. Europa dringt profitnehmend und -bringend ein ... und Damaskus träumt von vergangener Größe, von Minâres aus blauen Fayence–Kacheln, von Fontänen in weiten Säulenhöfen, wo vergilbte Koranblätter immer neue Weisheit spenden, von zehntausend Kamelen, die auf alten Karawanenstraßen warenbeladen ziehen, aus Bagdad, aus Persien, aus Indien ...
Wie ein Hauch verweht. Und Damaskus schweigt. Ich werde fortgehen.
Beirût, 31. August
Wieder Stunden im Auto. Vor dem Libanon kommt der Antilibanon. Man streicht aus dem mittagsweichen Damaskus in die Alleen von Weißpappeln, an den vielen Wassern vorbei, an den vielen Polizeistationen vorbei, wo die „Ausweise“ mißtrauisch beguckt werden, zwischen grüngoldenen Hecken, die sich wie ein Dach über der Straße verschlingen. Dann in die freien Berge. Der Wind schlägt gewaltsam wie mit schweren Tüchern ins Gesicht, man muß den Kopf zur Seite drehen, um Atem zu holen. Auf dem Wege zuweilen die hohen, schmalen, plachengedeckten Gebirgskarren, vier Maultiere einzeln voreinander gespannt. Dann senkt sich die Straße in die langgestreckte Ebene Coelesyrien (wie es die Römer nannten), gewaltig und verschwimmend nach Süden und Norden, mit der blauen Libanonkette weit im Angesicht. Wieder, wie im Sturz, in Laubgrün hinein; Baumstämme huschen nachmittäglich besonnt an den Augen vorbei, dazwischen offenbaren sich in der Ferne kleine schwarze Flecke als Beduinenzelte, manchmal ist an ihnen ein kleines Leben erkennbar, ein angebundenes Pferd oder eine Frau, die im hohen Tonkrug Wasser holt. Kinder an Lagerfeuern. Vorbei.
Riesengroß taucht der Libanon empor. Kantig und weich nebeneinander. Und was sich links als Höchstes erhebt, mit weißen Schneeflächen, verschwindet in einer seltsamen Luftspiegelung, wie abgebrochen, mit Bruchrändern, die wie Rauch zerrinnen. Es ist fast körperliche Beunruhigung, dieses Erhabene mit seinen tausend Farbengliederungen zwischen Braun, Grau, Blau und Mattweiß, diesen unendlich geschlossenen Rhythmus nie erfassen zu können, nie, auch wenn dir jede Kontur wir auf einem Teller klar und eindeutig präsentiert würde. Wenn du es sehr kurz betrachtest, sehr flüchtig, nur so nebenbei vielleicht: dann hast du noch die weiteste Möglichkeit, dies alles aufzufangen. Aber unser Schauen, unser aufmerksames Schauen, gewohnt, wenn auch nur mit Augen, Begriff and Begriff zu knüpfen, Ding von Ding zu trennen, bringt nur Mißlingen. da wir aber geistige Wesen sind: denn aus diesen unseren Hemmungen, diesen quälenden Verwirrtheiten, blitzt funkenklar das Erkennen unseres Daseins auf, das ein Abgrund ist, und die Sehnsucht: nicht in starrer Gebundenheit Kräfte an die Dinge zu werfen, inmitten gewohnter Zusammenhänge, sondern anders, schwebend, aus den Zusammenhängen jenes „absurden“ und absoluten „Vorwissens“ heraus – von dem wir in unseren besten Augenblicken wissen.
1. September
Beirût, Stadt am Meer, ordentlicher Hafen mit summendem Betrieb, Levante ohne Tünche –! Hier kann keine Legende nisten, der Schwung reicht kaum über die östliche Hälfte des Mittelländischen Meeres hinaus, – kein Traum von weiter Welt, wie in den großen Häfen Europas; aber man entbehrt es nicht. Hier handelt es sich um nichts anderes als was man handelt – und die großen Phrasen („Kultur“, „Fortschritt“, „Entwicklung“) sind inmitten einer solchen Atmosphäre so durchsichtig, daß sie nicht stören: denn sie nehmen sich selber nicht erst. Wie wenn jemand im Vorbeigehen aus einem unbestimmbaren „Irgendwoher“ ein Wort auffängt und, da sein Hirn im Augenblick auf die Arbeit seiner Beine konzentriert ist, es einem Vorübergehenden zuwirft; – der Vorübergehende aber ist in ähnlicher Verfassung und hat seinerseits auch kein Reservoir für das unbestimmte Wort zur Verfügung; aber beiden bleibt ein angenehmer Kitzel im Ohr und das unkontrollierbare Bewußtsein, immer Träger jener schönen Unbestimmbarkeit zu sein ... Wobei es vielleicht ein Vorurteil ist, den „Levantinismus“ verächtlich abzutun: denn wenn er so reine Formen annimmt, wie hier, stellt er doch auch (inmitten eines engen Milieus) eine direkte Berührung mit dem Leben dar, eine direkte Gier nach dem Leben.
Auf diesem Hintergrund: das „Unabhängigkeitsfest“, heute, am Jahrestag der Befreiung des Libanon von der türkischen Herrschaft – und ein wenig auch als protektionsfranzösische Demonstration gegen das übrige, mohammedanische Syrien. Viel blauweißrote Fahnen, Triumphbogen, Militärkapellen, Ansprachen des französischen Hohen Kommissars (General Weygand), die Notabeln in schwarzen Gehröcken und durchweichten Kragen in der glühend–schwülen Sommerhitze. – Hier beginne ich zum ersten Male zu zweifeln: sind selbst diese christlichen Libanonaraber dem Abendland für die „Befreiung“ dankbar –? Diese vielfach und offiziell ausgeschriene Dankbarkeit, sie klingt recht blechern; und in Wirklichkeit –: wofür? Da sich ja diese Menschen dank ihrer robusten Konstitution durch die dicksten muselmanischen Mauern heil und wohl durchfressen würden – durchgefressen haben? – Und (das wissen sie selbst ganz genau) nur darauf kommt es an.
Dschunije, 3. September
Ein Städtchen an der gleichnamigen Bucht, in der Nähe von Beirût. Ein Städtchen ohne großen Verkehr, dafür aber mit großer Stille beschenkt; ein Ausruhen ohne Heute und Morgen, ohne Zeit; es ist, als ob man sich auf jeden Ernst besinnen müßte, und sollte alle Wirklichkeit aus der Stille erkennen.
Nachts badete ich im Meer. Ich zog mich im Stockfinstern auf dem feuchten Strand aus, ging in die dunkle, laute Brandung hinein, ließ mich von den Wellen überspülen, deren Salzgehalt merklich die Haut reizte. Ich mußte (um nicht nicht unnötig ausgezogen zu haben) mich mit Gewalt zwingen, eine Weile im Wasser zu bleiben – ein unerklärliches Grauen, wie vor dem möglichen Eintritt einer unbekannten Gefahr, stieg in mir auf, wuchs, breitete sich aus ... bis ich die Spannung nicht mehr aushielt und aus dem Wasser heraus wie gehetzt zu meinen Kleidern lief, die ich schließlich mit tastenden Händen fand. Es sind die Schrecken Pans – und wir schweben über einem Abgrund...
Alexandrien, 6. September
Der Mond in dieser Mondnacht an Bord war eine gewaltige rote Scheibe; die Morgendämmerung ein graues Bewußtseinserwachen; in die letzten Schlafreste fallen die schurrenden, schon ganz im Tage stehenden Geräusche von Deckwaschen und Wasserplätschern.
Dann, wieder einmal, die Küste von Ägypten. Flacher Horizont, grellweiße, leicht gebrochene Häuserlinien, ein Leuchtturm hier und ein Minaret dort– Auf weit vorspringender Mole die Trümmer einer alten Festung.
Und wieder einmal Ägypten, flüssiges Leben, das ohne Widerstände in die Sonne läuft!
Kairo, 7. September
Als ich vor dreiviertel Jahren zum ersten Male in Ägypten war, befand sich dieses Land im Taumel einer großartigen Emotion: der „Einzug“ Kemal Paschas in Konstantinopel, das Erwachen der neuen Türkei –; die Ägypter jubelten über den Sieg der gemeinsamen Sache... in der Türkei. Letzten Endes aber sah man wirklich nur Parallelen zu den eigenen Möglichkeiten. Man sprach immer und überall von Kemal Pascha, verkaufte seine Bildnisse und primitive Darstellungen seines „Einzugs in Stambul“ an allen Straßenecken, in allen Eisenbahnwagen, Straßenbahnen; in jedem Schuhmacherladen, in der Butike hingen die grellbunten Bildchen neben den Porträts von Zaghlul Pascha. Es war wie ein lauter, hallender Schrei. Man betete überströmend die (einst recht unbeliebten) Türken an, – im Grunde der irritablen arabischen Seelen aber betete man zu der eigenen Kraft, beschwor sie, war unsicher und sicher zugleich; man genoß im türkischen Bilde die Möglichkeit eigener Freiheit und litt, da es nur eine Möglichkeit und noch keine Erfüllung war. –
Heute ist es ein wenig anders. Der unmittelbare Rausch ist vorbei. Monate der stärksten Kraftanspannung liegen dazwischen, Siege (wenn auch nur vorläufig nur Teilsiege) sind errungen worden, und die Zeit eilt in neue Hoffnungen hinein. die Ägypter haben ihrer Verfassung erhalten. Zaghlul Pascha darf zurückkehren. Bald finden die Wahlen zum ersten ägyptischen Parlament statt. – So gedeckt auch der politische Rückzug Englands war, so ist nichtsdestoweniger klar: seine Stellung in Ägypten ist aufs schwerste erschüttert. Nach einem neunjährigen Kriegszustand, nach Reihen von politischen Attentaten ohne Täter, nach harten Repressalien, Verbannungen, Einkerkerungen – bröckelte hier das englische Prestige an dem hartnäckigen, erwachten Willen des arabischen Volkes ab. Den Ägyptern mußte die Aufhebung der besonderen Vormachtstellung, die England in diesem Land seit 1882 einnimmt, als die oberste Aufgabe ihrer persönlichen Nationalentwicklung erscheinen. Sie sagten: England hat weitgehende wirtschaftliche Interessen in Ägypten: gut – diese Interessen sollten, soweit sie gerechtfertigt wären, gewahrt bleiben. Aber nur so weit, wie ein Staat dem anderen gegenüber völkerrechtlich und vertraglich festgelegte Verpflichtungen zu übernehmen und zu erfüllen hat; nicht aber als ein quasi–Kolonialland des britischen „Mutterlandes“. Für England, das sich zu Beginn des großen Krieges die aufrauschende Nationalwelle in Ägypten genau so wie in anderen arabischen Ländern als Waffe gegen den ottomanischen Staat zunutze gemacht hatte, konnte später, als der Krieg zu Ende ging und sich eine offensichtliche Verschiebung der ägyptischen Bewegung gegen England erwies, eine solche Perspektive natürlich nicht gleichgültig bleiben. Denn Ägypten (die englischen Schulatlanten bezeichnen es mit dem zarten britischen Rosa) ist ja schließlich nicht nur das reiche Wirtschaftsgebiet mit schönen und fraglosen Zukunftsmöglichkeiten; Ägypten – das ist die Hegemonie in der östlichen Hälfte des Mittelmeeres; es ist der Suez-Kanal und somit – wenn auch indirekt – das Sein oder Nichtsein des Indischen Kaiserreichs; und zuletzt (aber nicht zuletzt an Wichtigkeit) ist mit der Frage „Ägypten“ auch der Sudân verbunden, das „missing link“ zwischen Nord und Süd des afrikanischen Kontinents.
Alle Voraussetzungen mußten dafür sprechen, daß es hier zu einem harten, unterirdischen Kräftespiel kommen würde. Beide Parteien hatten von vornherein ihren Aktionsmodus festgelegt: der eine Teil, England, bot in großer Bereitschaft verschiedenen Kompromissen die Hand, – wenn nur die Kompromisse nicht das feine und weitverzweigte Gebäude des britischen Einflusses in seinen Fundamenten verletzten; die ägyptischen Nationalisten hingegen lehnten jede Kompromißidee bewußt und prinzipiell ab, auch auf die Gefahr hin, dadurch praktische Chancen jeder Art aus der Hand zu geben; – aber sie gewannen damit eine hohe Realität innerhalb der eigenen politischen Existenz, eine Un-Skepsis und breite Aktionsfähigkeit. Sie beteiligten sich nicht an der „allmählichen“ und „freundschaftlichen“ Freigabe des ägyptischen Staatslebens durch England, sie hatten für den gemäßigten Adly Pascha und seine „Konstitutionell-Liberalen“ nur das Wort „Verräter“ übrig. Sie waren einheitlich, sie waren wie ein Körper – und das Werk von Zaghlul. – Die vielen schwirrenden Fäden geheimer und offener Beeinflussung, die von der „Residenz“ des britischen High Commissioner zu den ägyptischen „konstitutionell–liberalen“ Ministerien liefen, hatten sich allmählich zu einem derben Seil verdichtet, über das der eine oder der andere Partner springen mußte. Und sie sprangen beide...: Die Engländer, weil in der ägyptischen Opposition schon der Dämon eines blutigen Aufruhrs schlief und auf jeden englischen Soldaten auf der Straße seinen drohenden und haßgeladenen Schatten von Meuchelmord warf; – und die ägyptischen Kabinette, weil sie keine Volksministerien waren, weil man auch den besten von ihnen schwache Kompromisse und wieder Kompromisse vorwarf und nach dem „Führer der Nation“, nach Zaghlul Pascha rief. –
Aufhebung des Ausnahmezustandes, Heimkehr der Verbannten, Verkündigung der Konstitution, bevorstehende Wahlen zu einer gesetzgebenden Nationalversammlung –: es ist eine zwangsläufige Entwicklung, nicht einmal so sehr englische Niederlage wie Sieg der östlichen Freiheitsidee. (Wann lassen wir endlich den engen Gedanken fallen, daß jeder „Sieg“ nur durch die „Niederlage“ eines anderen erkämpft werden kann –? Als ob die Welt eine Wagschale wäre und beständig an Kräften sparen müßte. Sieg ist ein Positives – und keine Antithese.)
Und wenn auch heute, trotz allem, die englische Vorherrschaft scheinbar nur ein Geringes ihrer äußeren Form aufgegeben hat und (scheinbar) in der Tatsache ungehindert weiterbesteht – was tut's? Es kommt bei solchen neuen Entwicklungen, wie sie der Orient jetzt durchmacht, nicht auf Machtverteilungen, sondern auf innere Kraft- und Spannungsverteilungen an..., was ein großer Unterschied ist; und hier hat die Idee der ägyptischen Befreiung – von aller Zukunft abgesehen – schon heute gesiegt, indem sie ihre harte Wirklichkeit bewies.
9. September
Wir sitzen beide am Nilkanal in Schubra, dem Dorf bei Kairo. Der Nachmittag ist heiß und in weiches Emaillicht getaucht. Deine zarten und durchseelten Hände gleichen mit dem Aquarellpinsel über körniges Papier, und aus dem Papier wachsen die braunen Leiber der Dahabijen in die Schatten der erhöhten Lehmufer hinein.
Die Stunden dehnen sich breit und sind mit Leben angefüllt. Frauen aus dem Dorf kommen mit irdenen Krügen ans Wasser, hohe Gestalten in schwarzen, lang-schleppenden Tüllgewändern. Wie braungoldene Früchte sind die Gesichter der Mädchen, und die älteren Frauen haben dunkle, schwermütige, bezaubernde Augen und herbgezeichnete Falten um den Mund.
10. September
Es gibt hier in Kairo ein paar Straßen und Gäßchen, die dicht beieinander liegen und in denen die fröhlichen Mädchen, die großen und die kleinen Kurtisanen ihre Tage und Nächte verbringen. In den Nächten sind diese Gassen heller als alle anderen in der großen Stadt, wacher als alle anderen, summend in zarten Akkorden der arabischen Harfen und Trommeln, lachend in ungelogener Freude (... o die gespenstischen „Freudenhäuser“ Europas!) – .
Ich liebe es, an den Abenden die Stufen zu diesen etwas höher gelegenen Gassen hinaufzusteigen, unter den Bogenlampen und bunten Laternen durchzugehen. Bei jedem Schritt legt sich ein Arm um deinen Hals; der Arm ist braun oder weiß, je nachdem, – aber immer in goldenen und silbernen Kettchen und Spangen klirrend; und er duftet nach Moschus, Weihrauch und warmer Tierhaut. Du mußt sehr auf der Hut sein, um dich von all diesen Armen und weißen Gebissen, die dich lachend angreifen, freizuhalten und dich von den Rufen „jâ habibi“ (o Liebling) loszuwinden. Du mußt zwischen den schimmernden Gestalten deinen Weg finden, zwischen üppigen und hellen Gliedern, oder in ihrer braunen Schmalheit berauschenden. Ägypten stürzt auf dich ein, Marokko, Algier, auch der Sudân und Nubien, auch Arabien, Syrien, Persien, Anatolien, Abessinien... Du mußt dir die Männer in seidenen Gewändern anschauen, die auf langen Bänken an den Hausmauern sitzen, reihenweise nebeneinander, freudig erregt, lachend, rufend, oder schweigsam und mit leuchtenden Augen die Nargileh rauchend... Du mußt zurücktreten vor dem lumpenbekleideten Derwisch aus dem Sudân, der mit verzücktem Gesicht und weit und starr gereckten Armen göttliche Preisgebete singt... Du mußt dich berühren lassen von den Weihrauchwolken aus dem schwingenden Becken des Duftverkäufers... Du mußt den plötzlich aufsteigenden Chorgesang hören und die zärtliche Bedeutung der schwirrenden arabischen Laute wissen... Und immer wieder mußt du die Fanfaren von buntem Licht sehen und die Freude hören, die wie in zarten Metallsaiten erklingt – die Freude der tierhaft-sinnlichen, tierhaft-verdorbenen, tierhaft-keuschen Mädchen in ihren hellblauen, gelben, roten, grünen, weißen, goldglitzernden Kleidern aus Seide, Tüll, Voile oder Damast – und ihr kleines Lachen vernehmen, das wie mit Katzentritten über die Straße läuft, verrinnend, wieder aufsteigend in einem anderen Mund...:
– um zu wissen, daß es Bilder und Gesichte gibt, die zu den vollkommen befriedigenden zählen.
* * *
Aber an den Tagen –: die Gassen sind still und leer; im Schatten eines Erkers reckt sich ein Frauenkörper träge auf der Bank; an kleinen Tischchen vor den Toren sitzen hie und da die Mädchen von gestern, trinken Kaffee mit ernsten, bärtigen Männern – und sprechen ernst über Dinge, die weit jenseits von Rausch und Ausgelassenheit liegen. – Die Männer aber scheinen die Kurtisanen zu achten und für „voll“ zu nehmen...
12. September
Eine Empfindung, die ich schon früher in unbestimmter Form hatte, wächst jetzt zur Klarheit auf: es gibt unter den Arabern keine „öffentliche Meinung“ – jenen im Abendland sichtbar gewordenen Ton geistiger Nivellierung und Gruppierung um gewisse „Zusammenhänge“, die in Wirklichkeit keine sind, sondern nur Trägheiten darstellen, ein lässiges (nicht vertrauendes) Sich–verlassen auf den anderen. – Es war mir schon in Syrien zur Überzeugung geworden, daß die Araber heute sehr wohl imstande wären, eine politische Freiheit zu tragen, nicht aber eine politische Einigkeit, die sich auf alle arabischen Länder erstreckt: und vielleicht könnte man dies letzten Endes auf ihren Mangel an Massensentimenten zurückführen, also auf etwas Wesentliches und nicht nur Vorübergehendes.
Alexandrien, 13. September
Ein großes Fest steht den Ägyptern bevor: die Rückkehr des verbannten Zaghlul Pascha. Der „alte Mann“, Saad Pascha Zaghlul, hat Ägypten magnetisiert – und England magnetisiert: derart, daß jenes ihm blind wie einem reinen Gott folgt, und dieses in beinahe mystischer Angst den dämonischen „Volksverführer“ in dieser zarten und gebrechlichen Erscheinung sieht.
Wenn nach dem Kriege die erste Epoche in der politischen Entwicklung des Orients mit dem praktischen und ideellen Sieg der kemalistischen Türkei geendet hat, so bedeutet die Heimkehr dieses ägyptischen Verbannten den Schlußpunkt der zweiten Epoche.
Smyrna, 18. September
Man fühlt es: hier ist noch Kriegsgebiet, auch wenn der Krieg vorbei ist. Lange vor der Einfahrt in den Hafen mußten Passagiere und Mannschaften Rettungsgürtel anlegen – denn es gibt noch schwimmende Minen in der Bucht von Smyrna. Das Motorboot des Piloten erschien und fuhr unserem Schiff wegweisend voran.
Die Berge am Ufer waren im Abendlicht von einem Orange, das nach Rosa hinüberfloß; die Gipfel bläulich und düster; auf der schmalen Ebene am Meer entlang verbrannte und verlassene Ansiedlungen. Das Land, grün und blühend in der warmen Herbstsonne, war von einer Öde, als ob nicht in unmittelbarer Nähe eine große Stadt läge. Nur in der Ferne, auf einem gewundenen Bergpfad, zog eine Karawane baktrischer Kamele vorüber, kurzbeinig, zweihöckrig und schwer beladen.
Dann Smyrna. die untere Stadt, einstmals griechisch, in Trümmern. Mauerreste ragen wie Pfeiler und halb abgerissene Theaterkulissen empor. Aber auf dem Berg liegen die türkischen Quartiere fast unversehrt; ihre roten Schieferdächer leuchten inmitten von Zypressen und Oleandern.
Über allem Schutt, über den Haufen von Stein und Eisen, über maskenartigen Häuserfassaden ohne Häuser, über allen Farben der Zerstörung schwimmt der Lärm einer vielseitigen Geschäftigkeit, wie sie nur der Osten kennt. Man fühlt es sofort, daß diese Menschen unverwüstlich sind – und nicht nur die aus den Stadtteilen am Berg; auch die Griechen, die Armenier haben Lebenssehnsucht genug, um das Zerstörte wieder aufzubauen. Es sind ihrer wenig jetzt, da die meisten vertrieben wurden; aber was blieb, paßt sich den neuen Verhältnissen an und arbeitet ohne Atemholen.
Die Trümmerstadt flaggt. Wo man hinsieht: rote Fahnen mit weißem Halbmond und Stern. Alle Holzbuden der Händler, alle geborstenen Mauern, alle Boote im Hafen (selbst in den dürftigsten von ihnen ist ein Teppich über die Bänke gebreitet), alle Dinge haben das rote Tuch mit den zwei weißen Flecken gemein. Es ist heute Mewlûd, der Geburtstag des Propheten.
In den Dardanellen, 20. September
... Das Schiff biegt um ein vorspringendes Kap. Schräg am Bergabhang liegen einige Häuser und die Ruinen einer alten Festung mit Türmen und gezinnten Mauern: Baba Kalessi – und dieser Name, wild und dunkel wie alle türkischen, bringt die Nähe der Dardanellen zum Bewußtsein. Man steht an der Bordwand und wartet – wartet mit gespannten Sinnen auf das dramatische Gelände und die Schatten eines Vorgestern. die Leute an Bord (es ist ein französischen Schiff) erzählen sich Episoden aus den großen Dardanellenkämpfen. Ich muß unwillkürlich immer mithorchen. Warum? Sonst habe ich ja keinen Sinn für Kriegserinnerungen. Warum also hier? Ich denke, daß der Grund dafür in dem furchtbaren Begriff der „Vergangenheit“ zu suchen ist, in dem Begriff, der nirgends so lautlos und gespenstisch schwebt wie hier. Vorbei und Vergangen – und ins Wasser gefallen auf Niewiederkehr, aus dem Lauf der Dinge herausgerissen mit hartem Anfang und hartem Ende. Aus aller Konsequenz herausgerissen. Wie eine Explosion inmitten einer großen Stille. Groß ist die Stille dieser Wasser, dieser hügeligen Küste von Kleinasien. – Links vorne taucht ein Berg aus dem Meer, – Gallipoli? Aber es ist nur eine kleine Insel mit vielen weißen zylinderförmigen Windmühlen. Dann wieder freies Meer, – und dann, weich und träumerisch, Gallipoli.
Gallipoli. Kahle, niedrige Hügel. Das blaue Wasser schlägt leise an den Schiffsbug, das blaue Wasser ist wie ein unendliches Stück Atlas, ganz leicht gewellt und kaum gekräuselt. Ein kleines Fischerboot mit schrägem gelbrotem Segel gleitet traumzart vorbei. Eine solche süße Ruhe habe ich noch nie am Meer erlebt.
Dann erhebt sich links das Ufer zu einer steilen Wand, an deren Fuß Rümpfe gesunkener Kriegsschiffe in die Luft starren. Rechts und links geschleifte Forts, Mauern in Trümmern. Am europäischen Ufer, schräg hinaufsteigend, ein weites umzäuntes Viereck: das Gräberfeld der gefallenen Soldaten und Matrosen Englands, Frankreichs und Italiens. wie wir dann tiefer din die Nachmittagsdämmerung der engen Wasserstraße hineinschneiden, steht plötzlich hoch oben über dem Abhang eine weiße Kirche; auch sie ein Andenken an die Tausende von Toten.
Das östliche Ufer rundet sich ein wenig einwärts und entblößt die Häuser von Tschanak–Kale, die glatt nebeneinander in langer Linie über dem Wasser stehen. Im Abendlicht sehen wie wie emailliert aus, mit hellblauen und rosa Mauern. Wieder: Festungen in Trümmern; aber über der kleinen Stadt liegt ein Friede, daß du glauben könntest, du wärst an einem der Seen in Oberitalien.
Konstantinopel, 21. September
Dies ist Vollendung: vor Tagesanbruch aus dem Marmara–Meer vor Konstantinopel zu kommen. – Es ist drei Uhr nachts, ich bin auf Deck und sehe, hinter einem Leuchtturm, einige zarte zitternde Lichter – wird Stambul sein. Rechts schwingt sich das Meeresufer in gestrecktem Bogen herüber, berührt am Horizont die Lichter von Konstantinopel und geht schwarzdämmernd in ihnen auf. Im Osten, wo in ein paar Stunden die Sonne erscheinen wird, wieder einige leuchtende Punkte: Skutari in Kleinasien; dahinter Berge, gewellt und rund. Und alle Konturen schwimmen in der opalbleichen Nacht des Marmara-Meeres, unter einem sanften Vollmond ohnegleichen.
Eine Stunde vergeht, wir haben uns dem langen spindelförmigen Umriß von Stambul genähert. Und dies ist das Sonderbare: obwohl es noch dunkel ist und die Formen nicht zu unterscheiden sind, drängt es sich wie im starken Hauch der Sinnen auf, das Wissen, das dort drüben in den fließenden, grauschimmernden Schatten ein heftiges Leben schläft. Dieses Leben hat allen Dingen ringsumher, auch dem Wasser, sein Zeichen aufgezwungen, – und selbst ich Fremder auf dem fremden Schiff bin schon in seinen Bannkreis geraten. – Du bist wie ein guter Leviathan, Konstantinopel, wenn man dir in der Dämmerung nahekommt.
Es wird etwas heller. Jetzt erkenne ich die Kontur einer großen Kuppelmoschee mit stabdünnen Minâres, dann eine Reihe von gebuckelten Häusern, dann einen Turm, – dann die schweren Formen der Achmed–Moschee, die schwarz und still im Schutz ihrer sechs Minarette schläft, unten, auf der Meeresseite, drängen sich pinienartige Bäume an sie heran. Ein intensives, aber gleichsam schwarzes Leuchten geht von allen diesen Silhouetten aus. – Plötzlich bricht das Land ab und wir drehen uns in den breiten, bisher verborgenen Hafen. Rechts die Mündung des Bosporus, Skutari; links das Wasser des Goldenen Horns; – und vorne, emporsteigend, Galata und Pera; und wenn man sich umwendet und über die tausend Masten und Barken und Dampfer, an der großen Galata–Brücke entlang den Blick nach Süden gleiten läßt, offenbart sich die innere Seite von Stambul mit gewaltigen Moscheen über Moscheen, einem hügeligen Netz von Gassen und Häusern, Türmen, Palästen, Bastionen, – wie aus glasigem, aber undurchsichtigem Stein die Komposition eines herrlichen Zauberers. – Wie ist hier der Rhythmus der dreifachen Stadt und ihres Meeres in unglaublicher Einheitlichkeit geschlossen! Hoch oben der Galata–Turm – er steht in innigster Verbindung mit den goldumsäumten Bergen von Skutari; und im aufschimmernden Sonnenlichte das Mastengewirr im Hafen – gerade so muß es sein, damit die fernen Paläste am Bosporus sich ihres stillen Lebens freuen; und die riesigen Kuppelmoscheen von Stambul sind wie die weisen Mütter der Galata–Brücke, über die schon das erste Morgengetriebe zu brausen beginnt; und der schwarze Kohlenrauch der Dampfer ist keine Häßlichkeit hier, – er durchsetzt die Luft mit zartester Körperlichkeit, sie wird etwas Lebendiges und Atmendes und Verbindendes. – Und über Skutari steht die orangefarbene Sonne.
* * *
Nun bin ich da. Das starke Leben von Konstantinopel, das „Türkei“ heißt, Türkei von heute und morgen, hat mich erwischt. Bin ich glücklich?
Man schaukelte im Boot vom Schiff an die Reede heran.
Dann habe ich meine ersten Schritte in Konstantinopel getan. An den hohen Geschäftshäusern von Galata vorbei – während der Lärm der Menschen, Wagen, Straßenbahnen, Schiffspfeifen, Sirenen wild gegen die Ohren schlägt – in irgendwelche engen Gassen hinein, die seitwärts liegen. Ich verliere die gewaltigen Moscheen von Stambul aus dem Gesicht. Weit weg ist das Marmara–Meer. Das Getöse um die große Galata-Brücke, deren lange Linie alles Hastende und Schreiende zwischen Galata und Stambul zu verbinden scheint, erlischt. Es ist, als ob eine Dämmerung über alles metallisch Laute hereinbräche.
In diesen Gassen hier lärmen nur Menschen. Es ist ein Fischmarkt, durchdringende Gerüche, schlickernde Pfützen in den Löchern des Gehwegs. Am Vorsprung eines Budendaches hängt senkrecht der mächtige Leib eines Schwertfischs – er ist überwältigend groß und seine Schwanzflosse ragt empor wie eine schwarze, gewaltige Mondsichel mit aufwärts gewendeten Hörnern. – Dann komme ich in eine noch stillere Welt; in hölzernen Buden hängen tausenderlei Gegenstände aus rostigem Eisen – Ketten, Räder, Stangen, Kurbelwellen, Werkzeuge ... Warum muß ich unter allen Dingen Konstantinopels gerade diese Gassen als erste erblicken? Mein Auge huscht über die Haufen von altem Eisen hinweg. Aber wie sie alle so nachlässig und verbraucht ein geheimnisvolles und scheinbar unnützes Dasein führen, weiß ich. hier kann – vielleicht – das Herz Konstantinopels sein. In den unbedachten Dingen – vielleicht. (Und nicht in den hallenden, pompösen, offiziellen.) – Die Menschen dieser Gasse sind Händler oder Lastträger, und eine mürrische Stimmung liegt über ihnen allen. Die arabischen Lastträger, jenseits des Mittelmeers, packen hart ihre Lasten an, umwinden sie mit Seilen und heben sie auf den Rücken empor, wobei das Seil um die Stirn geschlungen und zeitweise mit den blanken Zähnen festgehalten wird; – und ihr reines Menschentum bleibt dabei heil und unversehrt, wie bei Wesen, die mit unbeschwerten Schultern schreiten. Die türkischen Lastträger laden die Waren auf ein lederbezogenes Gestell, das sie am Rücken tragen und das ihnen ermöglicht, ohne Seile zu arbeiten, – dafür aber gehen sie fast zur Erde gebeugt, in den Hüften rechtwinklig nach vorne gebogen; und sie seufzen unter ihrer Last ...
Jetzt sitze ich in meinem kleinen Hotelzimmer in Pera, dem europäischen Stadtteil. Im Nebenzimmer spielt jemand überlaut Klavier, aber es stört mich nicht, so müde ich auch bin. Etwas ist in diesem schäbigen Geklimper, was mich die Nähe der ersehntesten Dinge fühlen läßt.
Merkwürdig. Wo sind diese Dinge? In Konstantinopel – ?
23. September
Alles steht hier noch unter dem Hochdruck des bedeutenden Erlebnisses, das der Angora–Gedanke über den ganze Orient breitete. Vor allem ist es der große Stolz, sich frei zu sehen – und sich selbst frei gemacht zu haben. Bald werden die alliierten Truppen Konstantinopel verlassen. Ein neuer Aktivismus hat sich der Türken bemächtigt, ein friedlicher Aktivismus: die Sehnsucht, durch tätige Kraft die eigene Freiheit zu rechtfertigen. In diesem Bestreben, das auf völlige Umformung der täglichen Verhältnisse gerichtet ist, sind sie allein und wollen allein sein; die Losung heißt: „Türkische Arbeit im türkischen Staat.“ Und gerade weil die Losung so eindeutig und prägnant ist, weil sie so geradlinig und stürmisch auf die Gestaltung der unmittelbarsten Gegenwart losgeht und sich im Rausch ihrer eigenen Kraft befindet: so ist auch ein Fluktieren wie auf hoher See die Folge; es ist die Stimmung am Tage nach einer siegreichen Revolution. – Die Türken leben seit jeher auf einem vulkanischen Erdboden; und an solchen Völkern gehen jahrhundertealte Kulturen spurlos und schadlos vorüber, weil die Menschen nie Zeit hatten, sich ihnen hinzugeben und der harten Elemente zu vergessen, aus denen sie Feindschaft und Kraft zogen. „Kultur“ war jenen alten osmanischen Eroberungszeiten etwas Nebenherlaufendes, Unpersönliches – und was galt es, eine fremde Kultur zu vernichten, wo es doch nur um die einzige Sache, die eigene Lebensbegierde ging? Es konnte auch nicht schaden, eine fremde Kultur zu vernichten, denn die eigene Sehnsucht, einmal Gestalt geworden, mußte auch Anderen (wenn sie lebensfähig waren) zur Offenbarung werden. – Das Symbol ist auch heute noch unverändert geblieben – und das Flutende und Widerspruchsvolle in der Arbeit der neuen Türkei ist gut – und wäre auch tausendmal gut, auch wenn die „Skeptiker“, die levantinischen Europäer in Pera und Galata Recht hätten in ihrem Skeptizismus (der indessen nur aus dem Haß des Unanständigen gegen alles Anständige kommt). Wollten die Türken im Augenblick nur „reformieren“ und sich erst allmählich dem westlichen Machteinfluß entziehen, sozusagen „auf gütlichem Wege“, so würden sie von denselben Elementen, die heute haßvoll-skeptisch sind, im Stillen ausgelacht werden. Auch eine nationalpolitische Revolution wie die türkische will sich, genau wie eine soziale, gewaltsam und forlaufend im Inneren bestätigen, um nicht in einer Augenblicks–Chimäre unterzutauchen. Auch hier: was gilt es, wenn hundert Sachen schlecht gemacht werden? – wo es doch nur um eine einzige große Sache geht? Aber in Wirklichkeit gehen ja diese hundert praktischen Sache, aus den europäischen Händen genommen, in den türkischen Händen gar nicht so schlecht.
25. September
Konstantinopel ist weder Europa noch Orient. Ich weiß jetzt, daß ich diese Stadt nicht liebe – nie lieben werde –; und ich kann den Eindruck nicht loswerden, daß die großen Energien, die heute in der Türkei an der Arbeit sind, hier nur mit zweitklassigem Material zu tun haben. Starre Seelen... (Trotz allem, trotz „Revolution“.)
28. September
Aus einer der vielen gewundenen, hügeligen Gassen Stambuls komme ich auf einen hellen Platz – und höre das Schlagen und Flattern zahlloser Flügel in der Luft und sehe Scharen von grauen und weißen Tauben, die ohne Scheu um meinen Kopf schwirren, sich zur Erde senken und wieder rauschend auffliegen, wie in ewigem Jahrmarktstrubel befangen, eine ruhelose, unübersehbare Schar. – Das große Kuppelmassiv vor mir ist die „Taubenmoschee“ des Sultans Bajesid; – wie bei den meisten Moscheen Konstantinopels eine mächtige, zentrale Kuppel, daran eng im Kreise herum viele kleinere Kuppeln, und dazwischen immer tiefer wieder gan kleine Kuppelchen, eine dickgedrängte Masse, bis hinunter zur viereckigen Grundmauer; schließlich an jeder Ecke ein sehr schmales, hohes Minaret, wie eine Säule gerillt, mit zwei Galerien und einem spitzen Turmdach. Das Ganze gewaltig, prächtig, – unpersönlich (Panorama–Kunst?)
Aber heute liebe ich die grau–kühle Herbstluft und liebe also auch die Bajesid–Moschee. An einer Seitenfront des großen Steinkastens lehnt ein türkisches Café, eine Bretterbude mit einigen Stühlen davor. Aus dem Innern ertönten der Klang einer Handtrommel und langgezogener Gesang. Ein Zigeuner singt. Der Gesang ist träge und erwärmt mich nicht. Auf den Stühlen vor dem Café sitzen einige ältere Männer, meist Alttürken mit weißem Turban, und hüllen sich frierend in ihre langen Kaftane. – Es ist Freitag.
Der Freitag schleppt sich durch die Gassen Konstantinopels wie ein müder Greis.
Ich denke mir: „Kairo...“ und denke mir: „selbst Damaskus, das mich so unbefriedigt ließ ... war es nicht doch noch wie ein Wolkenhauch und Traum von Menschlichkeit –? O meine arabischen Menschen...“
Alle Menschen in Konstantinopel machen Geschäfte. So zweideutige, lockere Existenzen, wie man sie in allen arabischen Städten antrifft und von denen man nie sagen kann, womit sie sich eigentlich beschäftigen, scheint es hier nicht zu geben. Und doch zeigt sich, nicht zum wenigsten, in diesen „Unqualifizierbaren“ die Qualität eines Volkes und einer Stadt.
1. Oktober
Heute war wieder irgend ein religiöser oder nationaler Feiertag. Die Freude über den bevorstehenden Abzug der alliierten Truppen gibt den Unterton der türkischen Stimmung ... Es ist die Stimmung eines Geburtstagskindes, das soeben ein längst erwartetes Geschenk endlich und doch fast als Überraschung erhalten hat. Und wie sie alle so flaggenfreudig sind in ihrem großen Stolz, so leuchten auch heute die Flaggen und Wimpeln über allen Gebäuden, Straßen, Brücken. –
Abends ging ich durch die große Straße in Galata, wo nur tagsüber Leben ist. Jetzt sind hier die Geschäfte geschlossen – und die Menschen wohnen anderswo. Die Fahnen wehen im Abendwind über dem leeren Pflaster, wie in einer verlassenen Stadt, und spielen gespenstisch und schön im Licht der Lampen und Transparente, die man längst der hohen Mauern entzündet hat. – An einer Straßenecke sehe ich ein kleines, etwa fünfzehnjähriges Negermädchen, das bettelnd die Hand nach den Vorübergehenden ausstreckt ... aber es geht jetzt kein Mensch hier vorüber. Sie hat ein seltsam tierhaftes Gesicht, namenlos gutmütig, ergeben – und ich finde dies ihr Gesicht mit den dunklen Hundeaugen schön und muß mich fast demütig fühlen wie sie ...
2. Oktober
„Tanzende Derwische.“ Ich will sie aufsuchen in ihrem kleinen verlorenen Kloster und gehe über die menschentosende Galata-Brücke hinüber nach Stambul. Es ist drei Uhr nachmittags, und die Sonne steht gerade über diesem langgestreckten Stadtteil, der einst Byzanz war; ihr starkes Licht gibt der dunstigen Silhouette aus Häuserdächern, erhabenen Kuppeln und Minâres einen goldenen Hintergrund, genau wie auf den alten byzantinischen Bildern.
Das Kloster ist von einem kunstvollen schmiedeeisernen Gitter umgeben. Durch die schmale Pforte kommt man in den Hof und geht dann weiter auf einem steinernen Fußsteig an der Längsseite einer hohen Mauer; ich werfe durch einen der zerbrochenen Fensterläden einen Blick ins Innere: im Halbdunkel erkenne ich eine lange Reihe steinerner Sarkophage; hier sind die Äbte, die Ordenshäupter aus vielen Jahrhunderten begraben, – die Sarkophage im Hintergrund sind nur mehr glatte, zerbröckelnde Steinquader, erloschen Inschriften und vergessener Name. –
Der Saal der Klostermoschee ist von achteckiger Form, dämmrig, kühl; an den Wänden hängen runde Schilder mit Koransprüchen, im Hintergrund einige Wachslichter in hohen Kandelabern. Der ganze Raum ist durch ein niedriges hölzernes Gitter in zwei ungleiche Teile geteilt: der größere ist etwas erhöht und mit einem dünnen, hellbrauen Kamelhaarteppich bedeckt; die kleinere Abteilung ist für die Zuschauer bestimmt. – Drüben, in einer Ecke unter den Wachslichtern kauern im engen Kreis die Derwische auf einer Matte, – in ihrer Mitte ein Greis mit langem Bart – offenbar der Abt. Sie sind alle in dunkle Mäntel gehüllt und tragen auf dem Kopf sehr hohe, braune Filzmützen; die Füße sind unbeschuht. Sie beten halblaut – während aus einem Nebenraum, unsichtbar und nie aufhörend, eine monotone Musik (Flöte und eine Art Zither) klingt, – zuerst ganz leise, wie aus weiter Ferne, dann langsam ansteigend, gleichsam näherkommend, wachsend, bis zu einer gleichmäßigen Fülle, die aber immer ihre Ruhe und Sanftheit bewahr. – Plötzlich erheben sich alle, werfen ihre Mäntel ab und stehen in hellen, hemdartigen Kleidern und kurzen ärmellosen Jacken. Der Alte schreitet voran, die übrigen Derwische im Gänsemarsch hinter ihm – und so gehen sie im Kreise dreimal um den Raum herum. Ein kurzer Ruf: sie machen halt, jeder zweite dreht sich um, so daß je zwei und zwei einander gegenüberstehen; und dann eine tiefe gegenseitige Verbeugung, die Arme auf der Brust gekreuzt (– ich muß an das alte Menuett denken und wie sich damals die Kavaliere in gestickten Kleidern vor ihren Damen verbeugten; wie ähnlich die Form – und doch in so ganz verschiedener Ausübung!). Wieder ein Ruf, wie ein Kommando, – der Abt geht auf seine Platz zurück und bleibt bis ans Ende der Vorführung regungslos auf der Matte sitzen, scheinbar in lautloses Gebet versunken und nur von Zeit zu Zeit einen schrillen Ruf ausstoßend. Und während die unsichtbare Musik in ihrem ununterbrochenen Rhythmus weiterschwebt – beginnen sich die Mönche mit ausgebreiteten Armen und zurückgeworfenem Kopf auf den Zehenspitzen im Kreise zu drehen, langsam erst, dann immer rascher und schwingender, – sie schließen die Augen und gleiten starr in der unendlichen Kreisbewegung, stundenlang, ohne Stillstand, entrückt: und dieser Tanz ist wie eine großartige, unpathetische Hymne zu Ehren Gottes ... und er packt den Zuschauer, macht ihn schwindlig, – ein geheimnisvoller Ritus in Entsagung und Selbstverleugnung – aber ersichtlich im Rausch einer Ekstase, die die Welt vergißt und alle Freuden des Paradieses schon im voraus mit vollen Händen greift...
Ich gehe nach Hause und denke an das Wort des Propheten: „Der Kult der Gliedmaßen leitet zum Kult der Seelen über...“
Seit ich in Konstantinopel bin – : das erste Beglückende.
3. Oktober
Es ist Abend, ich stehe an der großen Galatabrücke und schaue in das Getriebe des Hafens, sehe die Barken und Boote und höre die tausendstimmigen Rufe. Vor mir liegen die Wasser des Goldenen Horns, rechts steigen Galata und Pera den Hügel hinauf, und links, blaudämmernd, Stambul. – Es geht keine Wärme von dieser Stadt aus, die Menschen sind hier nur Instrumente eines hastenden Existenzkampfes – genau wie in den Städten Europas. Sind sie daran schuld – oder ist vielleicht diese Stadt schon zu alt, zu ausgetreten, zu verbraucht, um neues Leben gebären zu können –?
4. Oktober
„Dies ist Vollendung.“ Diese Worte, vor zwei Wochen empfunden und gedacht, bezogen sich auf die morgendämmernde Fahrt aus dem Marmara-Meer ins Goldene Horn. Aber es schien mir damals mehr zu sein: es schien die Erfüllung der Reise sich mir zu nähern in der Nähe dieser Stadt; Konstantinopel, der Zusammenprall des neuen Ostens mit dem Westen... Was drüben in den arabischen Ländern, noch wie leises Erbeben war, wie ein exaltierter Tränendruck, der einem großen Weltgeist plötzlich und überwältigend in die körperliche Kehle schießt – – : hier müßte es schon Gestalt sein.
Ist es so? Ich weiß es nicht. Ich sehe nicht die Gestalt. Ich sehe ein Volk, dessen Freude zu hartgliedrig ist, um die Seelen wachsen zu machen; ich sehe ein Volk, dessen Leben aus Noch-Dunklem und Ungegorenem schöpft; ein Volk, dem die Unmittelbarkeit des freien Daseins fern ist, ein Volk, das eng und rechthaberisch – nicht ist, aber: sein könnte...
Es ist viel Zukunft da; – aber Gegenwart –?
6. Oktober
Ich reise ab. Ich trete vom Orient ab, wie von einer für den Augenblick erfüllten Pflicht. Pflicht? – Erkennen, Verstehen, Wissen; sich selbst in manchen Augenblicken vor dem Angesicht des Geschehens sehen; es mit der Nervenhaut betasten; die „Zwischendinge“ zwischen den Dingen aufspüren...
Der Morgen ist neblig wie im Spätherbst. Als ich über die Galata–Brücke ging – es war sieben Uhr –, um noch einmal nach Stambul zu gelangen, verlor sich die Hälfte der großen Brücke im Nebel. Von Stambul war nichts zu sehen. Schwarze Flecken in milchigem Dunst, schoben sich einige Kohlenbarken auf dem Goldenen Horn nebeneinander hin. Ich ging ziemlich rasch – und die Kuppeln und Spitzen von Stambul begannen mir im Näherschreiten sichtbar zu werden – sie wuchsen in Umrissen und Flächen heraus, wuchsen immer größer und deutlicher ... Und als die Hälfte der Brücke überschritten war und ich mich umdrehte, war Galata im Nebel verschwunden, und der Anfang der Brücke und das andere Ufer des Goldenen Horns...
La Valetta, 10. Oktober
Über dem weiten Hafenrund, hinter Forts und Bastionen: La Valetta, die hochgebaute Stadt. In der Nachmittagssonne schimmern die Häuser in allen zarten Zwischentönen – rosa, bläulich, hellgelb, grauweiß. Wie sie so steil und eng übereinander den Berg hinaufsteigen, in eine feste und doch luftige Gemeinschaft geschlossen, erinnern sie mich an eine andere Stadt in einer anderen Welt: Es-Salt. Aber was dort aus dem trockenen, einheitlichen Rhythmus arabischen Lebens komme, ist hier sehr viel differenzierter und schillernder; – die Eindeutigkeit ist drüben in Transjordanien; La Valetta ist schon Europa.
* * *
Ich besuchte ein Schiff, das im Hafen neben dem unseren liegt und morgen weiter nach Syrien fahren soll. Im Zwischendeck traf ich einige Araber, die von Brasilien nach ihrer Heimat zurückkehrten. Sie waren von Südamerika noch etwas benommen und fanden sich offenbar noch nicht völlig zurecht; das fremde Leben hatte in sie eingegriffen. Ihr Arabisch war mit portugiesischen Ausdrücken durchsetzt, und sie sagten immer „Kyrie eleison“ oder „Santa Maria“ – (obwohl sie echte Moslems waren). Aber als ich mich ihnen arabisch „zu erkennen gab“, kam mir – wie aus einem Munde – ein „âhlan w'sâhlan“ entgegen (und dieses fremde, innige Wort berührte mich fast wie Heimat – und so berührte es auch die anderen, weil sie es aussprechen durften). Ich sah: sie hatten sich doch zurechtgefunden oder vielmehr – sie hatten es nicht nötig, denn sie waren aus ihrem Blut heraus wie Stehaufmännchen, sie schnellten aus jeder Lage immer wieder empor, wippten ein paarmal hin und her – und standen frei und schwingend im Grund ihres Seins.
Ha'aretz, 5.11.2001
NEW YORK – Talal Assad, Professor für Anthropologie, lehnt sich zurück und versinkt in Kindheitserinnerungen. Seine Worte sind in einem angenehmen britischen Akzent und einem distanzierten akademischen Tonfall gesprochen, doch manchmal scheinen sie das Ergebnis einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen einem arabischen Sprichwortschöpfer und einem Hollywood-Drehbuchautor zu sein, der sich auf historische Epen spezialisiert hat.
Die Umstände, unter denen die Geschichte erzählt wird, verleihen der verworrenen Handlung, die sich über ein ganzes Jahrhundert erstreckt, eine zeitgenössische Dimension. Das Gespräch findet in Assads Büro im Fachbereich Anthropologie der City University of New York (CUNY) statt, sechs Stockwerke über der Fifth Avenue in Manhattan, etwas mehr als einen Monat nachdem muslimische Terroristen das World Trade Center zerstört haben.
Der durch die Anschläge vom 11. September ausgelöste Patriotismus gewinnt weiter an Dynamik. Fernsehsendungen und große Zeitschriften beschäftigen sich nach wie vor intensiv mit dem Thema Islam und Muslime und mit der alles überragenden Frage: Warum hassen sie Amerika? Der in Diskussionen am häufigsten verwendete Ausdruck ist „Kampf der Kulturen“.
Talal Assad – ein muslimischer Intellektueller mit amerikanischer Staatsbürgerschaft, der in Saudi-Arabien geboren wurde, in Indien aufgewachsen ist, in Pakistan erwachsen wurde, in England studiert hat und in New York lebt – hasst niemanden und lehnt die Theorie vom „Kampf der Kulturen“ vehement ab. Wenn die Familiengeschichte, die er erzählt, eine universelle Botschaft hat, dann die, daß Kulturen nicht unbedingt aufeinanderprallen müssen. Tatsächlich lebten sie in der Biografie mindestens einer Person harmonisch zusammen: seinem Vater.
Hinter dem Stacheldrahtzaun
Talal Assad erinnert sich an sich selbst als acht- oder neunjähriger Junge in Indien, der seinen Vater fast jeden Abend auf entspannten Spaziergängen begleitete – eine Erinnerung, die er in Ehren hält. Die beiden konnten auf diesen Spaziergängen nicht sehr weit gehen, da sie in einem Internierungslager inhaftiert waren. Muhammad Assad, Talals Vater, wurde 1939, einen Tag nach Kriegsbeginn, von den Briten verhaftet. Als österreichischer Staatsbürger und Autor zahlreicher Artikel in der deutschen Presse, in denen er den britischen Imperialismus scharf attackierte, stand Assad seit einiger Zeit unter strenger Beobachtung durch die Briten. Die Spannungen in Europa waren Grund genug, ihn für die Dauer des Krieges zu verhaften.
Ein Jahr später kamen seine Frau Monira und ihr Sohn Talal hinzu, und die drei wurden in ein Internierungslager für Familien in der Nähe von Bombay gebracht. Die meisten ihrer Nachbarn in der Einrichtung waren wohlhabende Juden aus Westeuropa mit deutscher oder österreichischer Staatsangehörigkeit, denen es gelungen war, der SS durch die Flucht nach Osten zu entkommen, nur um dann in die Fänge der Briten zu geraten. So kam es zu einer der historischen Absurditäten, die in dieser Geschichte reichlich zu finden sind: Diese Juden wurden aufgrund ihrer Herkunft in Indien inhaftiert, während Soldaten aus ihrem Herkunftsland ihre Familien wegen ihrer Religion ermordeten.
Die Situation der Familie Assad war noch komplizierter. Sie waren die einzigen Muslime im Internierungslager. Talals Mutter Monira, die Tochter eines Scheichs aus Saudi-Arabien, war rein zufällig in Indien gelandet, weil sie ihren Mann liebte. Muhammad Assad stand den muslimischen Führern des Subkontinents sehr nahe, die bereits damit begonnen hatten, die Grundlagen für die Gründung des muslimischen Staates Pakistan zu legen. In dieser turbulenten Zeit beschäftigte ihn jedoch eine ganz andere Angelegenheit: das Schicksal seines jüdischen Vaters und seiner Schwester, die in Europa geblieben waren. Seine verzweifelten Bemühungen, ein Visum für sie zu erhalten und sie aus dem Inferno zu befreien, blieben erfolglos, und sie wurden von den Nazis ermordet.
Talal Assad erinnert sich lebhaft an den Tag, an dem die bittere Nachricht das Internierungslager erreichte. „Mein Vater war ein intellektueller Typ, nicht besonders emotional.“ erinnert er sich. „Das einzige Mal in meinem Leben, daß ich ihn tatsächlich weinen sah, war, als er am Ende des Krieges erfuhr, daß sein Vater und seine Schwester in den Vernichtungslagern umgekommen waren. Das war das einzige Mal, daß er mich bat, ihn nicht auf seinem Abendspaziergang zu begleiten, das einzige Mal, daß er allein sein wollte.“
Muhammad Assad hat seine jüdische Vergangenheit nie verheimlicht, weder vor seinem Sohn noch vor seinem Umfeld. Für seine muslimischen Freunde war das kein Problem, da er offensichtlich den richtigen Weg gewählt hatte. Für Juden hingegen war seine Entscheidung schwer zu akzeptieren.
„Als wir noch im Internierungslager waren“, erzählt Talal, „begleitete mich mein Vater zur Schule, und unterwegs hielten wir an einem Laden, der von Juden betrieben wurde, die immer sehr nett zu uns waren. Mein Vater blieb stehen, um mit ihnen zu sprechen, und während des Gesprächs stellten sie zu ihrer großen Überraschung fest, daß er ein Jude gewesen war, der zum Islam konvertiert war. Natürlich konnten sie das nicht verstehen und fragten ihn, warum er das getan hatte. Vater dachte einen Moment nach und antwortete: ‚Glauben Sie nicht, daß es besser ist? Schließlich habe ich vorher an nichts geglaubt. Jetzt glaube ich zumindest an Gott.‘ Natürlich konnten sie das nicht akzeptieren.“
Muhammad Assad würzte seine vielen Abendspaziergänge mit seinem Sohn, indem er ihm Geschichten über seine Kindheit in Lemberg, Galizien, seine Jugend in Wien und Berlin, seinen ersten Besuch in Jerusalem – der sein Leben völlig veränderte – und die vielen folgenden Reisen erzählte, die ihn über Syrien und Jordanien zum Königshof in Saudi-Arabien führten und ihn zu der Entscheidung veranlassten, zu konvertieren und einen arabischen Namen anzunehmen.
Nach Kriegsende, nachdem die Familie freigelassen worden war und Muhammad Assad an der Gründung Pakistans mitgewirkt und den neuen Staat in den Vereinten Nationen vertreten hatte, schrieb er seine Memoiren über sein Erwachsenwerden, die unter dem Titel „Der Weg nach Mekka“ veröffentlicht wurden – ein mit Begeisterung geschriebenes Buch, in dem er seinen Weg vom Judentum zum Islam beschreibt. Es gibt nicht viele Menschen, die 380 fesselnde Seiten über ihr Leben bis zum Alter von 32 Jahren schreiben können.
In der Einleitung zu seinem Buch schrieb er: „Die Geschichte, die ich in diesem Buch erzählen werde, ist nicht die Autobiografie eines Mannes, der durch seine Rolle in öffentlichen Angelegenheiten aufgefallen ist; es ist keine Abenteuererzählung – denn obwohl ich viele seltsame Abenteuer erlebt habe, waren sie nie mehr als eine Begleiterscheinung dessen, was in mir vorging; es ist nicht einmal die Geschichte einer bewussten Suche nach dem Glauben – denn dieser Glaube kam im Laufe der Jahre zu mir, ohne daß ich mich darum bemüht hätte, ihn zu finden. Meine Geschichte ist einfach die Geschichte eines Europäers, der den Islam entdeckt und sich in die muslimische Gemeinschaft integriert hat.“
Entfremdet in Wien
„Einfach“ ist das letzte Adjektiv, das man auf die Geschichte von Muhammad Assad anwenden sollte, auch wenn er selbst es in seiner charakteristischen Bescheidenheit verwendet. Bis zu seinem Tod vor fast zehn Jahren im hohen Alter von 92 Jahren in Mijas an der Costa del Sol in Südspanien war sein Geist frei von jeglichen Verboten und Konventionen.
Die Tatsache, daß er in Europa geboren wurde, hinderte ihn nicht daran, Araber zu werden; die Tatsache, daß er aus einer Rabbinerfamilie stammte, hinderte ihn nicht daran, sein Leben als frommer Muslim zu beenden; die Tatsache, daß er schon in jungen Jahren als Journalist bei der Frankfurter Zeitung, einer der wichtigsten Zeitungen im Europa des frühen 20. Jahrhunderts, Anerkennung und Ansehen erlangte, hinderte ihn nicht daran, alles aufzugeben und sich in Saudi-Arabien niederzulassen; die Tatsache, daß er dort dem Königshof nahestand, hinderte ihn nicht daran, weiter nach Osten zu wandern, um seinen Traum von einer muslimischen Utopie in Pakistan zu verwirklichen; die Tatsache, daß er von den Briten verhaftet wurde, hielt ihn nicht davon ab, seinen Sohn Talal zum Studium nach Oxford zu schicken; und die Tatsache, daß er an der Gründung Pakistans beteiligt war und dort eine sehr hohe Position erreichte, hinderte ihn nicht daran, alles aufzugeben und die zweite Hälfte seines Lebens im Westen zu verbringen.
Und die Tatsache, daß sein großes Lebensprojekt eine kommentierte Übersetzung des Korans ins Englische war, machte ihn nicht zu einem blinden Anhänger der muslimischen Religion; die Tatsache, daß viele seiner naiven Träume vor seinen Augen zerplatzten, ließ ihn nicht den Glauben an die Menschen verlieren; und die Tatsache, daß er in seinen letzten Jahren über die Entwicklungen in den Ländern und Kulturen, die er liebte, traurig war, ließ ihn nicht den großartigen Optimismus verlieren, der ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte.
Nichts in seiner angenehmen Kindheit ließ die Abenteuerlust und Unruhe ahnen, die ihn später prägen sollten. Er wurde 1900 als Leopold Weiss geboren, Sohn des jüdischen Rechtsanwalts Karl Weiss, Enkel des Rabbiners von Czernowitz und Spross einer generationenalten Rabbinerdynastie. Die Familie lebte in Lemberg, das damals unter österreichischer Herrschaft stand. Leopold fuhr manchmal mit seiner Familie in die Sommerresidenz seines Großvaters mütterlicherseits, eines wohlhabenden Bankiers, wo er am Ufer eines Flusses spielte. Er reiste auch mit seinen Eltern nach Wien und Berlin, in die Alpen und die Wälder Böhmens, an die Nord- und Ostsee.
Jahre später, als er versuchte, das Geheimnis seines Lebens zu entschlüsseln und sich seine Wanderlust zu erklären, erinnerte er sich an diese Familienurlaube und schrieb: „Jedes Mal, wenn man sich auf eine solche Reise begab, ließen der erste Pfiff der Lokomotive und das erste Ruckeln der Räder das Herz vor Vorfreude auf die Wunder, die sich nun entfalten würden.“
Ein weiterer Schlüssel könnte in den Geschichten liegen, die er über einen Onkel väterlicherseits hörte, dessen Name nie ausgesprochen wurde und der wie viele Männer in der Familie ordinierter Rabbiner war. Eines Tages rasierte er sich ohne Vorwarnung seinen Bart ab, verließ seine Frau, die er nicht liebte, und ging nach London, wo er zum Christentum konvertierte und laut Familienlegende ein bedeutender Astronom und Mitglied des Adels wurde. Leopold Weiss' Eltern sprachen über den mysteriösen Onkel mit einer Mischung aus Ehrfurcht und aufgestauter Wut, wie sie einem schwarzen Schaf der Familie vorbehalten war.
Mit dreizehn war Leopold bereits mit den heiligen Texten des Judentums vertraut. Er kannte die Bibel gut und vertiefte sich in die Mischna und die Gemara. Dazu eignete er sich fließende Kenntnisse in Hebräisch und Aramäisch an, was ihm, wie er sagte, Jahre später das Erlernen des Arabischen erheblich erleichterte. Je tiefer er jedoch in seine jüdischen Studien eintauchte, desto mehr schwand sein Glaube.
„Ich entwickelte bald eine überhebliche Haltung gegenüber vielen Grundsätzen des jüdischen Glaubens.“ gab er Jahre später zu. „Mir schien, daß der Gott des Alten Testaments und des Talmuds sich übermäßig mit den Ritualen beschäftigte, mit denen seine Anhänger ihn verehren sollten. Außerdem kam mir der Gedanke, daß dieser Gott seltsamerweise sehr mit dem Schicksal eines bestimmten Volkes, der Hebräer, beschäftigt war.“
Leopold beschloss, den für ihn vorgezeichneten Weg zu verlassen. Es war eine Zeit großer historischer Umwälzungen und Revolutionen. Die Werte, die in Europa vorherrschend waren, brachen angesichts der schrecklichen Gemetzel der Jahre 1914–1918, in denen Leopold seine Jugend verbrachte und sein Bewusstsein sich formte, zusammen. Europa wurde von ideologischen Umbrüchen und politischen Unruhen erschüttert.
Es war eine atemlose, unsichere Zeit, die der Schriftsteller Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“ als wild und anarchisch beschrieb. Spirituelle Ekstase vermischte sich mit grobem Betrug. Jede extravagante Bewegung, die sich der Kritik des gesunden Menschenverstands entzog, erlebte eine Blütezeit: Theosophie, Spiritismus, Anthroposophie, Handlesen, Graphologie, mystische Lehren aus Fernost. Alles, was äußere Befreiung versprach, darunter Drogen wie Morphium, Heroin und Kokain, war sehr gefragt. Inzest und Vatermord waren beliebte Themen im Theater. Die Kunst wandte sich dem Dadaismus zu. Kommunismus und Faschismus erlebten eine Blütezeit. Korrektheit und Mäßigung wurden über Bord geworfen. Millionen verwirrter junger Menschen irrten benommen durch die europäischen Hauptstädte auf der Suche nach einem neuen Weg, der sie aus ihrer geistigen Not befreien würde.
„Da es keine verlässlichen moralischen Maßstäbe gab, konnte uns jungen Menschen niemand zufriedenstellende Antworten auf die vielen Fragen geben, die uns beschäftigten“, schrieb Leopold Weiss viele Jahre später.
Nach dem Krieg zog die Familie Weiss nach Wien, wo der zunehmend unruhige Leopold an der örtlichen Universität Kunstgeschichte zu studieren begann und in den von der Intelligenz frequentierten Cafés nach Antworten auf die quälenden Fragen suchte. Besonders faszinierten ihn die Auseinandersetzungen zwischen den Pionieren der Psychoanalyse wie Alfred Adler, Wilhelm Steckel und Otto Gross, die ihn beeindruckten, aber auch verwirrten und entfremdeten. Er verspürte einen instinktiven Widerstand gegen die intellektuelle Arroganz der neuen Wissenschaft, die seiner Meinung nach entschlossen schien, das Geheimnis der menschlichen Existenz auf eine Reihe neurologischer Reaktionen zu reduzieren. Weiss war überzeugt, daß es eine komplexere Antwort geben musste.
In der Zwischenzeit ließ er sich auf eine Reihe von Affären mit Frauen ein, die er in Cafés kennenlernte. Ein Nebeneffekt des Ersten Weltkriegs war die Befreiung der Sexualität von ihren viktorianischen Fesseln: Sexuelle Leidenschaft war nichts mehr, wofür man sich schämen musste. „In all meinen jugendlichen Liebesbeziehungen“, schrieb Weiss in Der Weg nach Mekka, „so oberflächlich und kurzlebig sie auch waren, gab es immer einen Funken Hoffnung, daß die schreckliche Isolation, die Menschen so offensichtlich voneinander trennte, durch das Zusammenwachsen eines Mannes und einer Frau überwunden werden könnte.“
Interview mit Madame Gorky
Im Alter von 20 Jahren beschloss Leopold Weiss, sich endgültig von seiner Familie zu trennen, und ging nach Berlin, entschlossen, Journalist zu werden. In seiner Tasche hatte er einen goldenen Ring, den er von seiner ein Jahr zuvor verstorbenen Mutter geerbt hatte, und einen wütenden Brief seines Vaters, in dem dieser schrieb, er könne sich vorstellen, daß Leopold sein Leben als Bettler in der Gosse beenden würde. Darauf antwortete Leopold, daß er nicht die Absicht habe, in der Gosse zu enden – er strebe nach der Spitze.
Allerdings hatte er nicht die geringste Ahnung, wo diese Spitze war oder wie er sie erreichen sollte. Nach einigen Wochen in Berlin, in denen er sich dank des Erlöses aus dem Verkauf des Rings seiner Mutter amüsierte, machten Freunde ihn mit dem aufstrebenden Filmregisseur Friedrich Wilhelm Murnau bekannt. Innerhalb weniger Jahre erlangte Murnau internationale Anerkennung als einer der großen Filmemacher der Stummfilmära, zusammen mit Fritz Lang und Ernst Lubitsch. Zwei Monate lang arbeitete Weiss als Murnaus persönlicher Assistent, ohne finanzielle Sorgen und genoss die Gunst von Starlets. Es dauerte ein weiteres Jahr, in dem er durch die Hauptstädte Europas zog und Gelegenheitsjobs annahm, bis ihm der Durchbruch in die Welt der Presse gelang.
Weiss begann in den neuen Büros der Nachrichtenagentur United Telegraph zu arbeiten, die gerade in Berlin ihren Betrieb aufgenommen hatte. Seine Aufgabe bestand darin, Zeitungen in der Provinz per Telefon Nachrichten vorzulesen, aber der ehrgeizige Weiss glaubte, daß er Besseres verdient hatte.
Einer seiner Freunde, ein Portier in einem Hotel, erzählte ihm, daß die Frau des berühmten russischen Schriftstellers Maxim Gorki unter einem Pseudonym in dem Hotel wohnte. Madame Gorki war damals wegen ihres Kampfes für die hungernden Massen in Russland in Europa sehr populär. Weiss besuchte sie in ihrem Hotelzimmer, spielte seinen Charme aus und überredete sie, ihm ein Interview zu geben. Nach der Veröffentlichung wurde der tatkräftige Angestellte zum Reporter befördert. Als seine Redakteure entdeckten, daß er mehrere Sprachen fließend beherrschte, wurde er zum stellvertretenden Redakteur für den skandinavischen Raum ernannt.
Leopolds beruflicher Erfolg freute ihn, machte ihn aber nicht glücklich. Wie viele andere junge Menschen, die auf der Suche nach einem Weg nach oben waren, verbrachte er viel Zeit in den angesagten Cafés Berlins.
„Ich war nicht unglücklich“, schrieb er in seiner Autobiografie, „aber meine Unfähigkeit, die vielfältigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Hoffnungen meiner Mitmenschen – egal welcher Gruppe sie angehörten – zu teilen, wuchs mit der Zeit zu einem vagen Gefühl, nicht ganz zu ihnen zu gehören, begleitet von einem ebenfalls vagen Wunsch, dazuzugehören – zu wem? Teil von etwas zu sein – von was?“
Genau zu dieser Zeit, im Frühjahr 1922, erhielt er einen Brief von seinem Onkel, Dr. Dorian Feigenbaum, dem jüngeren Bruder seiner Mutter. Feigenbaum, einer der ersten Schüler Sigmund Freuds, war Psychiater und leitete damals eine Einrichtung für psychisch Kranke in Jerusalem. Als Junggeselle, Gegner des Zionismus und nicht besonders von der arabischen Kultur angetan, fühlte er sich ziemlich einsam. In seinem Brief an seinen Neffen erinnerte er sich an die guten Zeiten in Wien, als er ihn durch die labyrinthische Welt der Psychoanalyse geführt hatte, und schloss mit einem großzügigen Angebot: „Warum kommst du nicht hierher und bleibst ein paar Monate bei mir? Ich bezahle dir die Rückreise, und du kannst jederzeit nach Berlin zurückkehren. Und während du hier bist, wirst du in einem reizenden alten arabischen Steinhaus wohnen, das im Sommer kühl (und im Winter verdammt kalt) ist. Wir werden unsere Zeit gut miteinander verbringen. Ich habe hier jede Menge Bücher, und wenn du es leid bist, die malerische Landschaft zu betrachten, kannst du lesen, so viel du willst.“
Mehr brauchte Leopold Weiss nicht. Am nächsten Morgen teilte er United Telegraph mit, daß er aus „wichtigen geschäftlichen Gründen“ gezwungen sei, in den Nahen Osten zu reisen und daher auch gezwungen sei, zu kündigen. Weiss reiste nach Rumänien, begab sich dann auf eine lange Seereise nach Alexandria, gefolgt von einer anstrengenden Zugfahrt nach Jerusalem, wo eines der turbulentesten Kapitel seines erstaunlichen Lebens beginnen sollte.
Ussishkins Prophezeihung
Das arabische Steinhaus, das Dorian Feigenbaum in seinem Brief beschrieben hatte, war genau wie versprochen. Es lag am Rande der Altstadt von Jerusalem in der Nähe des Jaffa-Tors. Die geräumigen, hohen Räume schienen Leopold von den Erinnerungen an das Leben der Aristokratie vergangener Zeiten durchdrungen zu sein. Die Geräusche des pulsierenden Marktlebens drangen sogar durch die dicken Mauern des Hauses und beflügelten die Fantasie des jungen Europäers, der gerade aus dem eisigen Berlin gekommen war.
Weiss hatte nichts als Zeit und nutzte sie, um das Leben in der Stadt geduldig zu beobachten. Die Araber, die auf den Markt kamen, fielen ihm fast sofort auf. Sie schienen Vertreter einer „Welt ohne Grenzen, die dennoch niemals formlos ist, die in sich selbst vollkommen ist und dennoch nach allen Seiten offen.“
Eines Tages, als er einen großen Beduinen beobachtete, der regungslos dastand und Weiss wie eine Gestalt aus einer Legende erschien, hatte er eine Vision: „Denn plötzlich wußte ich mit jener Klarheit, die manchmal wie ein Blitz in uns aufleuchtet und für einen Herzschlag die Welt erhellt, daß David und Davids Zeit, wie Abraham und Abrahams Zeit, ihren arabischen Wurzeln – und damit den Beduinen von heute – näher standen als den Juden von heute, die behaupten, ihre Nachkommen zu sein.“
Die Juden seiner Zeit standen an der Schwelle zu einer neuen Ära, die voller Gefahren und Verheißungen war. Nur fünf Jahre waren vergangen, seit Lord Balfour in seiner Erklärung der zionistischen Bewegung erstmals die internationale Anerkennung gewährt hatte, nach der sie so sehr verlangte. Die Dritte Alija (Einwanderungswelle), die damals ihren Höhepunkt erreichte, brachte etwa 35.000 glühende Zionisten aus Osteuropa nach Palästina. Es waren zähe Menschen, deren Ideal ihr Held Josef Trumpeldor, der zwei Jahre zuvor in einer Schlacht mit Arabern bei Tel Hai in Galiläa getötet worden war, wie folgt formulierte: „Wir brauchen Menschen, die zu allem bereit sind, was das Land Israel von ihnen verlangt ... Wir müssen eine Generation schaffen, die keine Interessen hat und keinen festen Gewohnheiten folgt. Ein gewöhnlicher Eisenstab. Flexibel – aber aus Eisen.
Ein Metall, aus dem man alles schmieden kann, was die nationale Maschine braucht. Fehlt ein Rad? Ein Nagel, eine Schraube, ein Schwungrad? Nehmt mich. Muß die Erde umgegraben werden? Ich grabe. Muss geschossen werden? Muss ich Soldat sein? Ich bin Soldat ... Ich bin die reine Idee des Dienstes, die zu allem bereit ist. Ich habe keine Bindungen. Ich kenne nur einen Imperativ: zu bauen.“
Leopold Weiss, so sehr er auch nach etwas Großem suchte, mit dem er sich verbinden konnte, konnte sich mit der Geisteshaltung, die sich in Trumpeldors Worten widerspiegelte, nicht identifizieren. Er war zu unabhängig, zu sehr Intellektueller – zwar empfänglich für Abenteuer, aber zu sensibel, um sich von solchen revolutionären Gefühlen mitreißen zu lassen. Er war nicht nach Palästina gekommen, um „aufzubauen und aufgebaut zu werden“, sondern um zu denken und zu schreiben.
Da er sehr schnell begriff, daß um ihn herum große und faszinierende Ereignisse stattfanden, beschloss er, die europäische Presse für das zu interessieren, was er erfuhr. Er schickte einen Artikel über den Nahen Osten an zehn große Zeitungen in Europa und erhielt zu seiner Überraschung eine positive Antwort von der Frankfurter Zeitung, der wichtigsten Zeitung Deutschlands. Die Zeitung ernannte ihn nicht nur zu ihrem Sonderkorrespondenten für den Nahen Osten, sondern gab ihm auch einen Vertrag für ein Buch, das er nach seiner Rückkehr nach Europa fertigstellen sollte.
Die Meinungen, die Weiss in der deutschen Zeitung veröffentlichte, waren für die zionistischen Leser der 1920er Jahre alles andere als erfreulich. Selbst heute, achtzig Jahre später, sind sie für einen jüdischen Israeli nicht leicht zu lesen. Weiss' Ansichten standen in krassem Gegensatz zum nationalen Ethos jener Zeit, das jedem bekannt war, der das Abitur in jüdischer Geschichte abgelegt hatte.
Die Juden, die Weiss in Jerusalem sah, machten einen sehr schlechten Eindruck auf ihn, und er hielt die Ideen der zionistischen Bewegung für unmoralisch und gefährlich. Die Juden, die er traf, meist Neuankömmlinge aus Polen und Russland, schienen „so viel von der Kleinheit und Enge ihres früheren Lebens in Europa mit sich zu tragen, daß es erstaunlich war, daß sie behaupteten, vom gleichen Stamm zu sein wie die stolzen Juden aus Marokko oder Tunesien“.
Weiss war erstaunt, als er feststellte, daß die europäischen Juden, obwohl sie so offensichtlich nicht mit ihrer Umgebung harmonierten, den Ton im jüdischen Leben und in der Politik angaben und somit seiner Meinung nach für die fast sichtbaren Spannungen zwischen Juden und Arabern verantwortlich waren.
„Was wusste der ‚durchschnittliche Europäer‘ damals über die Araber?“, fragt er in „Der Weg nach Mekka“ und antwortet: „Praktisch nichts. Wenn er in den Nahen Osten kam, brachte er einige romantische und falsche Vorstellungen mit, und wenn er gutwillig und intellektuell ehrlich war, musste er zugeben, daß er überhaupt keine Ahnung von den Arabern hatte. Auch ich hatte vor meiner Ankunft in Palästina nie daran gedacht, daß es arabisches Land war. Ich wusste natürlich vage, daß dort einige Araber lebten, aber ich stellte sie mir als Nomaden in Wüstenzelten und idyllische Oasenbewohner vor.
Da das meiste, was ich früher über Palästina gelesen hatte, von Zionisten geschrieben worden war – die natürlich nur ihre eigenen Probleme im Blick hatten –, war mir nicht bewusst, daß die Städte auch voller Araber waren. daß nämlich 1922 in Palästina fast fünf Araber auf jeden Juden kamen und es daher in weitaus höherem Maße ein arabisches Land als ein jüdisches war.
Als ich dies Herrn [Menachem] Ussishkin, dem Vorsitzenden des Zionistischen Aktionskomitees, gegenüber erwähnte, den ich während dieser Zeit traf, hatte ich den Eindruck, daß die Zionisten nicht geneigt waren, der Tatsache der arabischen Mehrheit viel Beachtung zu schenken; auch schienen sie der arabischen Opposition gegen den Zionismus keine wirkliche Bedeutung beizumessen. Die Antwort von Herrn Ussishkin zeugte von nichts als Verachtung für die Araber: „Es gibt hier keine echte Bewegung gegen uns – das heißt, keine Bewegung, die ihre Wurzeln im Volk hat. Alles, was Sie als Widerstand betrachten, ist in Wirklichkeit nur das Geschrei einiger unzufriedener Agitatoren. Das wird sich innerhalb weniger Monate oder höchstens einiger Jahre von selbst auflösen.“
Weizmann runzelt die Stirn
Leopold Weiss hingegen hielt die Opposition der Araber nicht für eine vorübergehende Erscheinung. Je mehr er sich mit ihrer Kultur beschäftigte, desto mehr entfremdete er sich von seinem eigenen Volk. Die Zionisten betrachteten ihn natürlich mit Argwohn und Empörung. Sie konnten nicht verstehen, wie ein Jude, der im Land Israel lebte, so hasserfüllte Artikel für eine angesehene deutsche Zeitung schreiben konnte, und sie konnten sich nicht vorstellen, was ein Mensch, der in der Kultur Europas aufgewachsen war, in der primitiven Welt der Araber suchen konnte.
„Ihrer Meinung nach“, schrieb Weiss, „waren [die Araber] nichts weiter als eine Masse rückständiger Menschen, auf die sie mit einem Gefühl blickten, das sich nicht wesentlich von dem der europäischen Siedler in Zentralafrika unterschied. Sie interessierten sich nicht im Geringsten dafür, was die Araber dachten; fast keiner von ihnen bemühte sich, Arabisch zu lernen; und alle akzeptierten ohne Frage die Aussage, daß Palästina das rechtmäßige Erbe der Juden sei.“
Letztendlich wurde Weiss von den Zionisten als einer derjenigen eingestuft, die von den Arabern „gekauft“ worden waren, oder als exzentrischer Intellektueller, der sich vom Exotischen des Orients angezogen fühlte. Nachdem sie zu diesem Schluss gekommen waren, nahmen sie ihn nicht mehr ernst. Zu seinem Glück waren nicht alle Juden in Palästina Zionisten. Weiss fand einen Freund: Jacob de Haan, einen Anwalt aus den Niederlanden, der als Korrespondent der britischen Zeitung The Daily Express in Jerusalem tätig war. De Haan lehnte den Zionismus aus ähnlichen Gründen ab wie Weiss, obwohl seine Ansichten auch von seinem ultraorthodoxen Glauben beeinflusst waren, daß die Rückkehr nach Zion erst mit dem Kommen des Messias erfolgen könne.
„Wir Juden“, sagte de Haan in einem seiner vielen Gespräche mit Weiss, „wurden aus dem Heiligen Land vertrieben und über die ganze Welt verstreut, weil wir die Aufgabe, die Gott uns übertragen hatte, nicht erfüllt hatten. Er hatte uns auserwählt, sein Wort zu verkünden, aber in unserem starren Stolz begannen wir zu glauben, daß er uns um unseretwillen zu einem auserwählten Volk gemacht hatte, und so verrieten wir ihn.“
Zunächst versuchte Weiss, mit den Zionisten zu diskutieren. Der Konflikt mit Ussishkin endete, wie zu erwarten war, in Frustration. Ussishkin war schließlich ein eifriger Zionist, der keine Kompromisse duldete. Es gab keine Chance, daß Weiss oder jemand wie er ihn zum Umdenken bewegen konnte. Nicht einmal Theodor Herzl war dazu in der Lage. Als der Begründer des politischen Zionismus Ussishkin einmal fragte, ob er wirklich glaube, daß die Juden die Kontrolle über das Land Israel erlangen würden, lautete die arrogante Antwort: „Ja, und wenn Sie das nicht glauben, haben Sie keinen Platz an der Spitze dieser Bewegung.“
Weiss hatte größere Erwartungen an Dr. Chaim Weizmann, den damaligen Führer der zionistischen Bewegung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Führern der Zionisten hatte Weizmann zwischen 1916 und 1921 mehrere der prominentesten Persönlichkeiten der arabischen Welt getroffen, wie Amos Elon in seinem Buch „The Israelis: Founders and Sons“ schreibt: „Mit seinem großen Charme und seiner Überzeugungskraft machte er sich unermüdlich daran, die Ängste der Araber zu zerstreuen, predigte die Idee einer arabisch-zionistischen Zusammenarbeit und gewann arabische Freunde dafür. Er verlor die nationalen Bestrebungen der Araber nicht aus den Augen ... Der Großmufti von Jerusalem hatte Weizmann 1918 in Jerusalem herzlich empfangen und dabei einen Hadith, eine Überlieferung des Propheten, zitiert: ‚Unsere Rechte sind eure Rechte, und eure Pflichten sind unsere Pflichten.‘“
Der Eindruck, den Weizmann auf Leopold Weiss hinterließ, war ganz anders. „Ich traf [Dr. Weizmann] im Haus eines jüdischen Freundes“, erinnert er sich in „The Road to Mecca“. „Man konnte nicht umhin, beeindruckt zu sein von der grenzenlosen Energie dieses Mannes – einer Energie, die sich sogar in seinen Körperbewegungen manifestierte, in den langen, federnden Schritten, mit denen er im Zimmer auf und ab ging – und von der Kraft seines Intellekts, die sich in seiner breiten Stirn und seinem durchdringenden Blick offenbarte.
Er sprach von den finanziellen Schwierigkeiten, die den Traum von einer jüdischen Heimstätte bedrohten, und von der unzureichenden Reaktion auf den Traum der Menschen im Ausland, und ich hatte den beunruhigenden Eindruck, daß sogar er, wie die meisten anderen Zionisten, geneigt war, die moralische Verantwortung für alles, was in Palästina geschah, auf die ‚Außenwelt‘ abzuwälzen. Dies veranlasste mich, die ehrfürchtige Stille zu durchbrechen, mit der alle anderen Anwesenden ihm zuhörten, und zu fragen: „Und was ist mit den Arabern?“
Ich muss einen Fauxpas begangen haben, als ich damit einen so dissonanten Ton in das Gespräch brachte, denn Dr. Weizmann wandte langsam sein Gesicht mir zu, legte die Kopie, die er in der Hand gehalten hatte, beiseite und wiederholte meine Frage: „Was ist mit den Arabern ...?“
„Nun, wie können Sie jemals hoffen, Palästina zu Ihrer Heimat zu machen, angesichts des vehementen Widerstands der Araber, die schließlich die Mehrheit in diesem Land stellen?“
Der zionistische Führer zuckte mit den Schultern und antwortete trocken: „Wir gehen davon aus, daß sie in ein paar Jahren nicht mehr in der Mehrheit sein werden.“
„Vielleicht ... aber stört Sie der moralische Aspekt der Frage nicht? Halten Sie es nicht für falsch, die Menschen zu vertreiben, die schon immer in diesem Land gelebt haben?“
„Aber es ist unser Land“, antwortete Dr. Weizmann und hob die Augenbrauen. „Wir nehmen nur zurück, was uns zu Unrecht genommen wurde.“
Weiss versuchte, Weizmann in eine Debatte zu verwickeln, führte verschiedene historische Argumente an und erklärte dem zionistischen Führer, daß das Land Israel selbst nach der Bibel vor der Ankunft der Hebräer von Amoritern, Edomitern, Philistern, Moabitern, Hethitern und anderen bewohnt war, die offensichtlich die Vorfahren der heute in Palästina lebenden Araber waren.
„Weizmann“, fasste Weiss zusammen, „lächelte höflich über meinen Ausbruch und lenkte das Gespräch auf andere Themen.“