Jan Jacob Slauerhoff: Die letzte Reise der Nyborg
Das westliche Firmament stand in düsterer Glut, starre Purpurflammen bohrten sich in die tiefhängenden grauen Wolken. Die Sonne sank mattrot, früh verdunkelt hinter den Rand der Südsee, leer, bis auf ein großes Segelschiff. Bei Abendanbruch am Golden Gate ausgelaufen, nahm es jetzt langsam Kurs nach Osten. Eine Viermastbark mit Hilfsdampfkraft. Zwischen den schweren Masten, halbverborgen im Durcheinander von Rahen, Segeln, Stagen und Takel rauchte das dünne Rohr wie ein Köhlerschornstein im Schwarzwald. Der Landwind legte sich, dennoch neigte sich das Schiff langsam zur Seite, es schien fast leer, die plumpe Form seines Rumpfs zeigte sich völlig bloß, eine gewaltige Kiste, die einen Vor- und einen Achtersteven bekommen hatte, um Schiff zu werden. Nichts an stolzen Linien, allen auf europäischen Werften gebaute Schiffe mehr oder weniger angeboren. Dieses war in Seattle geboren, aus dem Hirn eines Yanks, für den ein Schiff ein totes Geschöpf war, auf einer Werft ohne Tradition des Bauens und Takelns. Die Besatzung, größtenteils Norweger, tiefliegende Schiffe gewohnt, mit hohen Decklasten, fühlte sich unbehaglich auf diesem leeren Deck, aus dem nichts als Lukensülle und ein kleines Oberlicht ragten. Die Verschanzung war niedrig und dünn; an zwölf Schritte von Bord zu Bord gewöhnt, schien dies Deck weit wie eine verlassene Steppe. Und alle Räume blieben geschlossen. Nur die Offizieren hatten Zugang auf ihren Runden. Die Schlüssel blieben beim Kapitän im Schrank über seiner Koje, wo auch die Schiffspapiere lagen.
Die Sonne sank nun in der Kimm, ein unermeßlicher Schatten viel hinter dem Schiff übers Wasser und verband es eben noch mit dem zurückbleibenden Land. Zugleich mit der roten Scheibe verschwand diese Brücke, die Bark fuhr in die schnell und steil zunehmende Dunkelheit hinein, gegen die wachsende Dünung ansteigend. Acht Glasen. Gleichzeitig mit der Ablösung der Wache kam der Kapitän auf die Brücke, gab Befehl, den Dampf abzustellen, Bramsegel anzuschlagen und vier Striche weiter nördlich zu steuern. Den Schlüsselbund übergab er Soden, Erster Steuermann. „Mach’ zweimal die Runde, weck’ mich, wenn du was besonderes siehst oder hörst.“ „Oder rieche?“ fragte Soden.
„Dann lieber nicht. Sie sind aber fest vernagelt, gut kalfatert und verkittet. Du mußt schon eine verdammt feine Nase haben. Ich übernehme die Hundewache. Laß den Zweiten schlafen, morgen wird er seinen Rausch schon aushaben. Betrunken bei Abfahrt, schwere Strafe. Gute Wacht.“
Er verschwand im Kartenraum, setzte einen Kurs ab, immer pfeifend, einen alten Step stampfend, zwischendrin mit seinen Fäusten auf den Tisch schlagend. In seiner Kammer erlegte er sich bei einem Krug Bier einige Zeit Schweigen auf, danach nahm er wieder seine erbauliche Lektüre auf, Swedenborgs Himmel und Hölle. Er war nicht gläubig, obwohl er sonntagmorgens Bibellesung halten ließ. Aber die mathematische Gewißheit, mit welcher der halbwahnsinnige gelehrte Seher den Himmel und die Geisterwelt einteilte und jedem seinen Platz anwies, hatte etwas von einem überirdischen Besteck, hinterließ Eindruck auf sein nüchteres Gemüt – und rührte zugleich an verborgenen Fasern.
Um neun Uhr hörte das Pfeifen auf und kurz darauf ging das Licht aus. Noch zischte eine Zeitlang der entweichende Dampf, dann wurde es totenstill auf dem Schiff, zwischen dem leisen Tosen der Wellen längs des Rumpfs und dem Knarren der Rahen, die gegen die Masten drückten. Soden ging auf und ab, schaute noch einmal in den Kartenraum. Alles war still, er ging nach draußen und nahm einen kräftigen Schluck aus einer Capstan-Dose, die völlig unschuldig in einer Ecke des Kartenraums auf dem Lichtkasten stand.
Danach hing er in einer Ecke, geistesabwesend zu den Sternen starrend, sah nicht, daß jemand die Brücke heraufschlich und beim Leuchtkasten stehenblieb, eine kleine ausgezehrte Gestalt, kahlköpfig mit roter Nase und Wangen: Kirgaard, zum Maschinisten des Segelschiffs heruntergekommen. Der Kapitän hatte ihm jeglichen Alkoholgenuß verboten und ließ vor jeder Abfahrt seine Kammer und den Maschinenraum durchsuchen. Dennoch wußte der alte Mann, an Schnaps zu kommen; wo, wußte keiner, aber mitunter hatte er auf hoher See einen Rausch und nicht aus Liebe oder Freude. Die Büchse wurde geleert, aber er hustete in der Eile, der Steuermann sprang auf ihn zu und hatte ihn bei seinem mageren Handgelenk, ehe er die Brücke hinunter war.
„Alter Schnapsdieb, soll ich dich zum Kapitän bringen?“
„Gnade. Ich kann nicht ohne. Ich schäme mich zu Tode, daß ich auf so’nem Segler fahre. Als ich noch Obermaschinist bei der Dollar Linie war...“
„Schluß mit den lausigen Lügen. Denkst du ich bin ein Idiot? Was anderes als einen Tramp hast du noch nicht gesehen.“
„Und ein Tramp ist noch zehnmal besser als diese Bark mit dem verrosteten Radkasten.“
„Was suchst du dann hier?“
„Wart’ nur, noch ein oder zwei Reisen, dann bin ich, wo ich sein muß. Ach, die verpestete Luft hier an Bord. Ich ersticke. Meine Kammer....“
„Laß’ dann mal das Bullauge offen, du wohnst doch an Lee. Oder dünstest du selber etwa die Leichenluft aus? Weit entfernt davon bist du auch nicht mehr, alte Karkasse! Müssen wir etwa noch ein Schiff chartern, um dich zum Friedhof nach Aarhus zu bringen?“
Der Alte jammerte, als würde er den Tod mit seiner niemals fehlenden Sense in der anderen Ecke der Brücke stehen sehen. „Sssst, rede nicht so, er hat mich vergessen, übergangen. Als die Cholera auf der Drammen alles niedermähte, blieb ich allein übrig, stikum bin ich von Bord gegangen. Im Abmusterungsbuch des Todes steht: ‚Drammen, ganze Besatzung.‘ Verrate mich nicht. Dies ist meine letzte Reise. Dann ziehe ich bei meinen Enkeln ein. Da findet er mich nicht.“
„Denkst du, die wollten dich noch haben? Wie lange hast du sie nicht mehr gesehen?“
„Neun Jahre. Aber ich schicke jedes Jahr hundert Kronen. Und ich hab’ noch tausend.“
„Dann kannst du ja dein Testament schon vorweg schicken mit einem kurzfristigen Sterbegelöbnis dazu, sonst nehmen sie dich nicht. Obwohl, wenn sie dich sehen.... Und mach’ dich nach unten und lamentier’ in deine Kissen. Nimm meine Einschlaftropfen mal mit.“
Er sah, daß die Büchse schon leer war; der Alte stolperte eilige die Treppe hinunter und bekam einen Fluch hinterher.
Soden ging einige Zeit hastig hin und her, wie um den Gedanken an die halbe Leiche abzuschütteln. Der Wind wurde stärker; er schaute kurz auf das Barometer: Das Ding war in der kurzen Zeit um zwei Striche gefallen.
Er pfiff die Wache, die Bramsegel wieder einzuholen, schon neigte sich das Schiff schwer über, lag schwankend auf dem Kiel.
Warum nicht was Zucker oder Salpeter untendrin? Das hatten sie leicht bekommen können, hätte noch was eingebracht. In einem der untersten Räume setzte ein dumpfes Schlagen ein. Zuerst achtete Soden nicht darauf, aber es ging so ungleich mit dem Rollen des Schiffs, bisweilen hörte es plötzlich auf und dann begann es wieder mit kurzen Stößen. Soden wurde unruhig davon. „Da fängt schon einer an zu spuken. Warum sie nicht verzurren, oder eine ordentliche Decklast obendrauf, wie sie es gewohnt sind? Der Alte denkt, daß sie still liegen werden, weil es sein Fach ist, und die erstbeste Nacht fängt schon einer an.“ Er hatte zu viel zu tun, um sogleich hinabzugehen. Segel fortnehmen und den Kurs ändern brauchte eine Viertelstunde. Dann lag das Schiff wieder fester. Dennoch hatte das Rumpeln unten nicht sehr abgenommen. Der Dritte kam, seine Wache zu übernehmen. Er machte seine Runde, sparte den Raum auf bis zum Schluß. Er klomm die Leiter hinab, ein ekliger Dunst schlug ihm entgegen, seine Lampe flackerte und verlöschte plötzlich ganz. Er kletterte nach oben zurück, es schien eine Flucht. Vor dem Einstiegsloch blieb er stehen. Sein Herz klopfte heftig, schauerliche Echos hallten in der dunklen Höhle. Er holte den Lampengast heraus, damit er eine besser Lampe klarmachte und ging dann, dem Kapitän Bescheid sagen.
„Was Neues?“ fragte der, schlechtgelaunt aus dem Schlaf fahrend.
„Depression und Meuterei unter den Passagieren.“
„Alles beides. Wart’ mal mit deinen Späßen, bis es wieder Tag ist.“
„Hör zu!“ sagte Soden. Der Wind war stärker in den Wanten zu hören. Das Rumpeln war bis hier hörbar.
„Was soll’s, ein Sarg, der sich losgemacht hat.“
„Das Schiff liegt stetig über, wie kann eine loser Sarg dann so einen Krach machen?“
Fröbom hatte Stiefel und Jäcker an und stieß Soden vor sich hinaus.
„Voraus dann!“ Der Lampengast stand schon klar mit einer großen Öllampe, die qualmte zwar, ging diesmal aber nicht aus und leuchtete schwach in den ersten Raum. Wie in einer großen Katakombe standen die Särge auf Gerüsten, vier übereinander. Die bizarren Zeichen auf der Vorderseite sahen im Zwielicht aus wie große Wurmlöcher, hier und da blinkte ein Beschlag. Alle Särge standen still als hätte die Erde sie schon verschlungen.
Im zweiten Raum schien das Licht ganz in der Dunkelheit verloren zu gehen. Sie gingen zwischen den Reihen hindurch, kein Sarg schob nach vorn oder wich mit einem Ruck nach hinten. Aber von unten donnerte es lauter und sie stiegen auch in den dritten Raum hinab und horchten in die Vorpiek.
Soden folgte zögernd dem Kapitän, aber es passierte nichts, keine fallenden Särge, die den Rückweg versperrten, nur da, aus einem ruhenden Sarg, schlug es plötzlich heftig. Soden griff Fröbom in den Arm: „Da. Er will heraus! Nicht aufmachen! Dann wollen sie alle, kommen aus den Räumen, laufen in den Gängen, liegen in den Kojen, überall, übers ganze Schiff. Wir klettern in den Mast, sie uns hinterher; wir springen, unten fangen sie uns auf, werfen uns einander zu, in die leeren Särge. Laß’ Wasser in den Raum laufen! Nicht aufmachen! Luken dicht, Zurrings drauf!“
Letzteres schrie er heraus und begann zu schwanken. Fröbom griff ihn von hinten, er riß sich los: „Zurrings auf die Luken! In die Boote!“ Er wollte schreiend nach oben eilen. Fröbom erstickte die Panik, indem er ihn um Hals und Nacken griff, schleppte ihn mit und ließ ihn los und bewußtlos hinter sich zusammensacken. Er setzte einen Wachmann mit einem Eimer Wasser neben ihn, mit dem Befehl, jegliches Geräusch zu ersticken. Dann holte er ein Beil und ein Brecheisen aus dem Lagerraum und stieg allein wieder in den Unterraum hinab.
Dort stand die Laterne noch einsam vor dem Sarg und leuchtete. Auch der Lampengast war geflüchtet. Fröbom grinste, hing die Laterne an die oberste Stützlatte und wartete geduldig. Lange blieb es still, Fröbom wartete. Als endlich das Gepolter wieder begann, hieb er auf den Sarg ein, der Deckel flog in Splittern auf, er bog sich über das Loch: in einem schwarzseidenen offenen Gewand lagen braune Steine von allerlei Form, ein größerer, beinahe rund, rollte über die anderen.
Fröbom lachte vergnügt. Soviel Dünung um einen Haufen Steine. Wie kamen sie in die Kiste? Die Verschiffer würden es wissen. Er nahm den runden Stein in die Hand, er war ziemlich schwer, sein Daumen sank in ein Loch, seine Finger konnten ihn kaum umspannen, in einer plötzlichen Aufwallung schwenkte er ihn einige Male als wäre es eine Kegelkugel und schickte den Stein den Raum hinein. Niederplumpsend, fortrollend, über das Holz donnernd schlug der Wurf die Stille in Stücke. Dann klomm Fröbom wieder nach oben, doch halberwege blieb er auf der Leiter stehen und stieg, nach einigem Nachdenken wieder hinab.
„Solange er den Stein nicht in Händen hält ist, ist nichts gewonnen, und ich werde jede Nacht wegen der Spukgeschichten herausgeholt.“
Der Stein war allerdings nirgends mehr zu finden. „Der Rest von dem Haufen wird es ebensogut tun, aber nicht so gut.“ dachte er, verstimmt über sein unbedachtes Handeln.
Nicht ehe es hellichter Tag war, konnte er Soden in den Raum hineinkriegen. Bleich und zitternd, mit einer Handspake in der Hand, schlich er hinter dem Alten her. Der Sarg war leer, kein Stein lag darin oder zwischen den Holzsplittern. Nur das leere schwarzseidene Gewand. Soden blickte ängstlich in alle Richtungen, der Kapitän suchte sich den Rücken krumm nach Steinsplittern, fand aber nur ein wenig Grus – zu wenig, als daß man ihn für die Störung der Nachtruhe verantwortlich machen konnte. Sodens angsterfüllter Blick sprach ihn frei.
Fröbom murrte und fluchte und argumentierte.
„Der dicke Stein, ich hab’ ihn doch heute Nacht in meinen eigenen Händen gehalten! Wo konnte sonst der Lärm herkommen! Stein ist Stein, tot ist tot. Verrückt, wer etwas anderes denkt. Menschen wie du müssen erst sterben, ehe sie glauben, daß da nichts ist, und dann sehen sie’s nicht mehr, weil sie selbst nicht mehr sind. So lernen sie’s nie!“
Später am Vormittag kam der nachts schon erwartete, aber halbvergessene Sturm. Eine kleine dunkelschwarze Wolke stand lange über der Kimm, dunkle Bahnen ausstrahlend, ein gelber Wind wehte über die wilder und wilder hochschlagende Wellen, sie in ungekannte Mißbildungen mitschleppend, nach Kräfte das einzige Schiff heimsuchend, das sich in ihrer Reichweite befand.
Dennoch hielt die Nyborg zunächst stand; unter nichts als einem gerefften Marssegel und Fock wich sie wenig von ihrem Kurs ab. Und jetzt kam, unter heftigem Stampfen, kein Laut mehr aus dem Raum. Wohl knackten die Masten beunruhigend, und das Wasser stand schon auf Deck.
Soden sagte dem Kapitän, daß er doch lieber den Lärm an Deck hätte. Dieser sagte nur: „Warte, bis heute Abend.“ Und als Soden die Hundewache übernahm, traf er ihn auf der Brücke an: „Beim geringsten Geräusch kommst du mich dann doch wecken.“ Aber auf das Andringen, Flehen beinahe, des verschämten Ersten Steuermanns zog er sich doch zurück. Eigentlich war er auch müde, die vorige Nacht war schon angespannt genug gewesen. Behaglich fiel er in seine Koje.
Soden ging von Bord zu Bord, ruhig stehen ging noch nicht. Könnte er mal etwas tun, eine Peilung nehmen, aber er konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Da aber: ein paar Sterne zwischen den Wolken, genug für ein Besteck. Er wollte rechnen gehen, aber seine Nerven waren ohnmächtig, erfüllt von dem, was unweigerlich wieder kommen mußte. Gelassen wartete er ab, hoffte nur, daß es rasch käme. Die Sterne waren schon wieder fort. Er hoffte, daß das Schiff unterging, ehe das Andere wieder losbrach.
Dann kam es auch, mit donnerndem Geheul und Gekreisch, er wußte nicht, ob von den Elementen oder von den Geistern. Brachen alle Wellen zugleich gegen das Schiff los oder zerbrachen sie von innen die Wände? Der Alte kam bleich und unbekleidet die Brücke herauf. Plötzlich verlöschten alle Lichter.
Er schrie Soden ins Ohr, auf der Brücke zu bleiben und das Ruder zu übernehmen, kroch selbst aufs Deck und gelangte rasch in eine wirre Masse Holz, Segel, Want – es war nicht mehr zu unterscheiden. Noch fielen andauernd Stücke, er wollte heraus aus dem Haufen, hatte aber keine Orientierung, und als er endlich seinen Kopf draußen hatte, war sein Bein eingeklemmt und mußte er warten bis es hell wurde.
Inzwischen stand Soden Todesängste aus, aber nach unten wagte er sich schon gar nicht. Befehle waren nicht zu geben, das Schiff trieb auf Gottes Gnade.
So brach der graue Sturmtag an. Da konnte sich der Kapitän mit Hilfe der ganzen Wache aus der Ruine des Fockmasts befreien und wieder das Kommando übernehmen. Der Mast lag nicht über, er hing halb über dem Schiff, als wäre es ein geknickter, aber noch nicht abgebrochener Strohhalm. Rahen und Takelage hingen zwischen Himmel und Deck, mit alle Mann begann man darauf einzuhacken; was lose war, spülten die Sturzseen fort, und gegen Mittag kam der Mast frei, offensichtlich unter Deck gebrochen und wurde zwei Fuß darüber gekappt. Sogleich richtete die Bark sich auf, Ha! In ihr war noch Leben! Aber am Bugspriet blieb der Mast hängen und drohte nun die Wand des Schiffs zu zerschmettern, indem er immer wieder dagegen rollte. Es saß schon ein Mann im Topp, heftig hackend, es war Soden, von seiner Angst genesen oder doch an Rettung zweifelnd, was machte es aus? Ein letzter Hieb schied das gebrochene Glied vom Schiff. Fröbom ließ wenden und die gefährliche Masse schwamm schnell vorbei. Von Kurs halten war allerdings keine Rede. Das Erste, was Fröbom tat, war eine Untersuchung unter Deck. Der Stumpf war im zweiten Raum vollkommen durchgefault. Der Bootsmann, herbeigeholt und ausgescholten, beharrte darauf, daß das Holz eine Woche vor Abfahrt noch vollkommen intakt gewesen sei.
„Kein Holzwurm drin, Mijnheer, ich lasse jeden Monat teeren.“
Es war keine Zeit mehr, das Schiff trieb quer mit dem Wind ab, bekam mehr und mehr Schlagseite. Ein Notfock vom Bug zur großen Stenge war die einzige Chance. Dreimal beinahe klar, riß eine wildere Bö es fort. Soden verrichtete Wunder, verließ seinen Platz auf dem Großstag nicht ehe gegen Einbruch des Abends endlich das Segel fest stand und das Schiff schrecklich zugerichtet, wieder gegen die Wellen an konnte. War es Mut oder das Verlangen, so lange und so weit wie möglich vom Deck fortzubleiben? Fröbom schickte ihn mit einem „du wirst sicher müde sein“ in die Koje und übernahm selbst die Hundewache. Danach machte er eine Runde. Er ging ruhig zwischen den Särgen hindurch, hier und dort die Lampe hebend, seine Pfeife gegen eine Bretterwand ausklopfend. Aber immer, obschon er es sich nicht eingestand, in der Hoffnung, den Stein wiederzufinden. Als er einen alten Sack in einer Ecke dafür ansah und sich darauf stürzte, schalt er sich, machte sich weis, daß er nur suchte, um Soden zu beruhigen. Die Wellen donnerten von allen Seiten, Wände und Rundhölzer knarrten, dröhnten, als ob sich das Schiffsinnere unter der Gewalt zusammenzog und nachgab. Er ging nach oben und stand noch Stunden hinter dem Steuerhaus, um frische Luft zu schnappen.
Als sich nach zwei Tagen der Sturm legte, wollte er mit Dampfkraft wieder auf den alten Kurs gehen und unterwegs den Notmast aufrichten. Er hatte Kirgaard nicht mehr gesehen, seit der Mast heruntergekommen war und ging ihn aufsuchen.
Fröbom hatte dem Ersten Steuermann und dem Lampengast unter fürchterlichen Drohungen verboten, jemand etwas von der Nacht zu erzählen. Aber ein Blick in die dunkle, dumpfige Kammer sagte ihm, daß der Alte alles wußte. Eine leere Flasche rollte auf der Bank, eine Bibel lag offen auf dem Tisch. Kirgaard in der Koje mit einer Heiligenfigur im Arm, die er mit einen Schrei dem Eintretenden jammernd entgegenhielt, bis er den Kapitän erkannte. Dieser befahl ihm kurz und grob den Unrat aus der Luke zu werfen. Kirgaard verstaute die Figur unter seinem Kissen, stieg in seine Pantinen und faßte Fröbom mit einem Hundeblick beim Ärmel.
„Ich kenne mich in diesen Dingen mehr aus, als das ganze Swedenborg, Kapitän. Die Ratten haben in Frisco das Schiff verlassen, als die Toten darauf kamen. Laßt uns in die Boote gehen, dann haben wir noch eine Chance.“
„Du lügst. Die Ratten tauchten in Trupps auf.“
„Natürlich, das waren auch Geister. Ich bin auf eine getreten. Wissen Sie...“
„Weißt du, daß Verrückte in Fesseln und Zwangsjacken gesteckt werden? Wenn du drin bist, hast du keine Chance, ’raus zu kommen. Und jetzt ab zu deinem Alteisenladen, fix!“ Er griff ihn beim Nacken, trug ihn und stieß ihn die Tür des Maschinenraums hinein.
Es blieb noch ruhig, aber Fröbom sah den Alten beschäftigt und ließ ihn gewähren. Abends kam er leichenblaß, erschöpft melden: „Maschine klar.“ Die Schraube begann, sich langsam zu drehen, und zum ersten Mal seit fünf Tagen war die Nyborg wieder ein steuerbares Schiff. Es nahm wieder Fahrt auf, arbeitete sich wieder durch die noch hohen Wellen. Dann unten ein Knall, ein Röcheln, als wollte das Schiff sterben, und kurz darauf trieb es wieder seitwärts ab.
Fröbom rannte nach unten und sah krummgezogene Stäbe und und darunter den Maschinisten in seinem Kesselpack, wimmernd vor Angst.
Er war nur leicht am Arm verletzt. Fröbom wollte ihn befragen. Es war kein Wort aus ihm herauszukriegen, unzusammenhängendes Gestammel. „Gestoppt, zerschmettert.“ wiederholte er in Abständen. Es war einigermaßen begreiflich, die Maschine mußte abgeschrieben werden. Hier und da lag ein wenig brauner Grus, Rost oder Stein. Der Dampf begann den Raum zu füllen. Fröbom befahl den Heizern, die Feuer zu löschen und Dampf abzulassen. Eine Stunde lang schrie die Nyborg über den verlassenen Ozean, den Sturm überstimmend, als ob sie zu Tode gemartert würde und langsam stürbe. Vortan wurde es totenstill, ohne irgendein Geräusch außer den Wellen entlang des Rumpfs, dem Wind in den Segeln und dem Knarren von Holz.
Fröbom wußte durchaus, was zu tun war. Der Form halber hielt er Schiffsrat mit den Steuerleuten, stellte fest, daß die Maschine durch unbekannte Ursache unklar geworden war. Danach stellte und beantwortete er einige Fragen, durch alle bestätigt. Müssen wir Ladung hinauswerfen? Nein. Kurs halten? Unmöglich. Auch keine Ortsbestimmung an verschiedenen Tagen.
Beschlossen wurde, weiterhin abzutreiben, bis die Sonne durchkam, dann die nächstliegenden Inseln zu erreichen versuchen, dort die Maschine heben, reparieren und die Reise fortsetzen.
Der Kapitän setzte ein Dokument auf, alle unterzeichneten, er holte Cognac und Zigarren aus dem Wandschränkchen, alle rauchten und schwiegen mehrheitlich und gingen, noch ehe die Zigarren halb geraucht waren. Der Kapitän verharrte nachdenkend bei seinem Glas. Die wie vielste Reise schon? Die vierzehnte. Frisco-Foochow direkt. Honolulu durften sie nicht mehr anlaufen. Auf der langen Strecke hatte man alles gegen sich, Pazifikstürme einerseits, Taifune am Ende. An der einen Seite Frisco mit seinen Bars und Tanzcafes and der anderen Foochow mit seinen Friedhöfen, die Hügel rundum übersät mit Gräbern, Steinen, Putten, Urnen voll Knochen, Prunkgräbern mit Vorhof, Porzellanlöwen, eingelegten Sprüchen, prunkenden Vasen. Ein großer Friedhof. An der Wasserseite dann die Teelagerhäuser, Emigrantenhotels und Bordelle, der Zollclub, das Missionsgebäude, gleich daneben das Stegelabyrinth, wo die Müllhaufen und faulenden Bettler quer über der Straße lagen. Welch eine Fahrt: von einem langweiligen Friedhof und einer veralteten Stadt zu einer Yanks- und Chinesenstadt in brutalem Wachstum, wo ums Leben geschunden und gemordet wird. Und dazwischen das größte Stück Wasser der Welt. Fröbom leerte die Karaffe in ein Whiskyglas. Aber welch ein Verdienst, fünf Dollar für jede Leiche, die lebend, das heißt unbeschädigt hinüberkam. Ansonsten klagte die Familie.
Wieso sparten die bettelarmen Gelben, wenn sie doch in ihr Land gingen, um dort zu liegen, wo es drangvoll war und kaum Platz für die Lebenden? In den Rocky Mountains war doch Platz genug, wenn man mit aller Gewalt für sich liegen wollte. Es sollte ihm egal sein, es gab eine einfache Ladung und hohe Prämien und darum ging es schließlich. Er nahm sich allerdings vor, es jetzt dabei zu belassen, sollte es diesmal gut ablaufen. Heimlich mißtraute er seiner eigenen Entscheidung, trank mißmutig das Glas leer und döste weiter vor sich hin. Merkwürdig, das Schiff fuhr langsamer, langsamer; er blickte durch den Spiegel auf die See, die bodenlos tief darunter lag. Der Mond war grün aufgegangen. Ein langer Zug Särge zog sich hinter dem Schiff her, die Kimm durchschneidend. Die Nyborg konnte das nicht mehr schleppen, er mußte die Trosse kappen, es ging nicht anders. Er kappte und hielt das Ende eines langen geflochtenen Zopfs in seiner Hand, daran hing ein kahler, gelber Schädel, drehte sich vor seinen Augen wie ein Globus, auf dem die Umrisse des Landes ausgelöscht waren. Der Globus wuchs beängstigend, er mußte ihn festhalten, sonst würde alles zerschmettert. Er erwachte, mit den Händen auf der Karaffe, sein Kopf zersprang, sein Hals quoll ihm über den Kragen, den er für die Sitzung angelegt hatte. Er riß ihn los, warf ihn gegen den Spiegel, tauchte seinen Kopf in die Schüssel, wobei er mit Schrecken an die Warnung des alten Dr. Crane dachte: „Nicht mehr trinken, wenn du dir keinen Schlag einhandeln willst.“ Er hatte ihn zur Ader gelassen. Na, Blut genug, viel zu viel. Er sah die geschwollenen Adern an seinem Kopf, seine Hände fühlten das klopfende Herz, er spürte den wahnsinnigen Drang, es selbst abzunehmen. Ein Rasiermesser, ein Schnitt, noch einer, es kam nichts, dann richtig tief, schräg über die dicke Ader, das Blut spritzte ins Whiskyglas, das er noch rasch darunter hielt, es lief über, lief auf die Tischdecke, war nicht mehr zu stillen. „Soden!“ Der Steuermann kam herbeigeeilt, fiel in Ohnmacht, Tritte brachten ihn zu sich, ungeschickt band er unter dem Ellenbogen ab.
Als er fertig war, blieb er stehen, mit ängstlichem Blick auf den Alten. Wenn er sich hatte davon machen wollen?
„Wegtreten!“ schnaubte Fröbom.
„Was ist passiert, Kapitän? Sind sie bei Ihnen gewesen? Wollt Ihr es nicht wieder versuchen?“
Da begriff er was der Steuermann dachte und brach in verächtliches Gelächter aus.
„Denkst du daß jeder so feige ist wie du, Geisterseher? Sollte ich einmal Albträume haben, pack ich sie beim Kragen und würge sie!“
„Scheint eher, als hätten sie Euch halb erwürgt.“
„Verschw...“ Er überlegte es sich aber, daß es besser sei, dem Angsthasen aus seinem Wahn zu helfen, tauchte in eine Lade und holte ein Papier heraus, das an den Falzen durchgewetzt war.
„Lies dies mal, das wird dich aufmöbeln.“
Soden las eine Rechnung: „Two bleedings, $25 each. Dr. Crane.“
„Das könnten wir uns selbst doch auch verdienen, es ist schließlich keine Kunst, wie du siehst.“ Er blieb allein sitzen und schenkte sich noch einen ein.